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Engelsfluch

Engelsfluch

Titel: Engelsfluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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zum Haus von Rosalia Baldanello gingen. Fast unvorstellbar, dachte Enrico, dass er gestern noch unter sommerlicher Hitze seinen Schweiß vergossen hatte. Heute war er über die wetterfeste Jacke froh, die er beim Verlassen des Hotels mitgenommen hatte. Das Dorf wirkte so ausgestorben wie gestern, als er es zusammen mit Elena betreten hatte. Doch wenn er genauer hinsah, bemerkte er etliche Gesichter, die sich hinter den Fensterscheiben die Nasen platt drückten. Er konnte nicht sagen, ob sein Anblick bei den Leuten mehr Neugier oder Ablehnung hervorrief. Jedenfalls war er froh, dass Massi ihn begleitete.
    Der Umstand, dass die Witwe des Bürgermeisters die Schwester des Commissario war, warf ein erhellendes Licht auf Massis Interesse an dem Fall. Es ging ihm also nicht nur um die Ehre der Polizei von Pescia, sondern vor allem darum, den Mord an seinem Schwager aufzuklären.
    Enrico wandte sich an den Polizisten: »Können Sie sich vorstellen, was Ihre Schwester verschweigt?«
    »Leider nein«, seufzte Massi. »Ich konnte mir noch nie sonderlich gut vorstellen, was in den Köpfen von Frauen vorgeht. Aber eins weiß ich mit Sicherheit: Solange Antonia nicht von selbst mit uns sprechen will, werden wir nichts von ihr erfahren. Sie war schon als Kind so stur wie zwei ineinander verkeilte Ziegenböcke zusammen.«
    Sie umrundeten die Kirche, und ein ungutes Gefühl beschlich Enrico. Er musste an den ermordeten Bürgermeister denken und daran, dass in der Küche des Pfarrers für ihn und Elena der Alptraum begonnen hatte. Und zum hundertsten Mal stellte er sich die Frage, was den Pfarrer eines abgelegenen Bergdorfes in der Toskana veranlasst haben mochte, den Bürgermeister zu erschlagen.
    Hinter der Kirche kamen sie zu kleinen, eng beieinander stehenden Häusern, die sämtlich aussahen, als hätten sie seit den Zeiten Leonardo da Vincis keinen Farbtopf und keinen Nagel mehr gesehen. Vor einem der letzten dieser Häuser blieb Massi stehen und klopfte laut an die fleckige Holztür. Eine Klingel oder auch nur einen Türklopfer gab es nicht. Zaghaft rief eine Stimme etwas Unverständliches, und keine dreißig Sekunden später wurde die Tür geöffnet. Sie standen einem verwitterten alten Mann gegenüber, den die Jahre gekrümmt hatten und der vielleicht deshalb besonders klein auf Enrico wirkte. Massi kratzte sich nachdenklich an der Wange und sagte: »Sie sind Ezzo Pisano, nicht wahr? Guten Tag, Signor Pisano. Wir wollten eigentlich zu Signora Baldanello.«
    »Und Sie sind der Bruder der armen Signora Cavara«, sagte der alte Mann mit heiserer Stimme. »Was wollen Sie von Signora Baldanello? Es geht ihr gar nicht gut. Sie muss das Bett hüten«
    »Und Sie kümmern sich um Signora Baldanello?«
    »Sie hat sich um meine Frau gekümmert, kurz bevor Nicola starb. Jetzt ist die Reihe an mir, Signora Baldanello diesen letzten Dienst zu erweisen. Wir Alten müssen zusammenhalten, besonders, da wir immer weniger werden.«
    Er lachte in seiner heiseren Art. »Ich kann nur hoffen, dass noch jemand übrig bleibt, der sich um mich kümmern kann.«
    Massi zeigte auf Enrico. »Dieser junge Mann kommt aus Deutschland und möchte Signora Baldanello besuchen. Er ist der Sohn von Mariella Baldanello.«
    »Er kommt aber spät«, sagte Ezzo Pisano nur und trat zur Seite, um die Besucher ins Haus zu lassen. Drinnen war es düster, und es roch muffig, als sei hier seit Monaten nicht mehr richtig gelüftet worden. Enrico fragte sich, ob Frischluft und Tageslicht alten Menschen gleichgültig wurden oder ob sich die Alten auf diese Weise gar aufs Grab vorbereiteten.
    Pisano führte sie in eine kleine Kammer, wo Rosalia Baldanello auf einem schmalen Bett lag, bewacht von einem Kruzifix und einem geschnitzten Bildnis der Muttergottes. Sie machte einen dünnen, ausgemergelten Eindruck, und das weiße Haar hing in unordentlichen Strähnen um ihr eingefallenes Gesicht. Aber vor Enricos geistigem Auge verjüngte sich die Frau, glätteten sich die zahllosen Falten, wurde das Haar dunkler, und er stellte eine erstaunliche Ähnlichkeit mit seiner Mutter fest. Pisano räusperte sich, um die Aufmerksamkeit der starr nach oben blickenden Frau zu erregen. »Signora, dies ist Ihr Großneffe aus Deutschland, der Sohn Ihrer Nichte Mariella.
    Er ist gekommen, um Ihnen seine Aufwartung zu machen.«
    Langsam wandte die Frau ihren Kopf und blickte die drei Männer aus tief in den Höhlen liegenden Augen an. Auf Enrico blieb ihr Blick lange haften, und ihm war nicht klar,

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