Engelsfluch
sie bei bestem Licht zu betrachten, zu den großen Fenstern.
»Dies hier ist eine römische Arbeit aus der Zeit der ersten Kaiser«, begann ich meine Einordnung. »Und das hier auch.
Diese Vase hier ist eindeutig etruskischen Ursprungs. Der Krug auf den ersten Blick ebenfalls, betrachtet man ihn aber genauer, stellt man fest, dass man hier den etruskischen Stil kopiert hat.
Vermutlich stammt die Bemalung von einem Griechen.«
»Bravo!«, rief Elisa und klatschte begeistert in die Hände.
»Bravo, Monsieur Schreiber! Mein Bruder hat nicht übertrieben, als er von Ihren Fähigkeiten erzählte.«
Als ich endlich begriff, starrte ich die Schwester des mächtigen Franzosenkaisers wohl ziemlich böse an.
»Das war eine Prüfung, nicht wahr? Sie haben vorher schon gewusst, um was für Stücke es sich handelt!«
Chenier erhob beschwichtigend die Hand. »Mäßigen Sie sich, Monsieur! Vergessen Sie nicht, zu wem Sie sprechen!«
Elisa hatte beschlossen, mir mein Aufbrausen nicht übel zu nehmen. Sanft berührte sie meinen linken Arm und lächelte mich an. »Ärgern Sie sich nicht, Monsieur Schreiber! Ich vertraue Ihnen. Aber immerhin lasse ich mir Ihre Anwesenheit einiges kosten. Darf ich angesichts dessen Ihr profundes Wissen nicht mal ein klein wenig auf die Probe stellen?«
Ihre Worte wirkten einen Augenblick auf mich, als hätte mir jemand den Teppich unter den Füßen weggezogen. Aber je länger ich über sie nachdachte, desto mehr Sinn ergaben sie für mich. »Sie sind meine Auftraggeberin!«, platzte es aus mir heraus. »Sie haben mich nach Lucca geholt!«
Elisa nickte. »Und ich war ganz schön erschrocken, als ich von Ihrer Entführung durch die Banditen erfuhr. Ich habe Colonel Chenier beauftragt, unsere besten Soldaten auf die Suche nach Ihnen zu schicken, Gott sei Dank mit Erfolg.«
»Haben Sie sich Sorgen um mein Wohlergehen gemacht oder um Ihre Investition, Hoheit?«
»Beides liegt mir am Herzen«, antwortete sie mit einem unschuldigen Augenaufschlag, der nicht zu ihrer Position und ihrem sonstigen Auftreten passen wollte. »Schließlich sind Sie sehr wichtig für mich und mein Fürstentum, Monsieur.«
»Das müssen Sie mir erklären, Hoheit!«
Elisa nahm die Vase zur Hand, die ich als etruskisches Fundstück identifiziert hatte. Die Grundfarbe war Schwarz, und der unbekannte, seit vielen Jahrhunderten tote Künstler hatte sie mit rotbrauner Farbe bemalt. Das Bild zeigte einen unbekleideten Jüngling, der auf einer Art Sockel saß und anderen nackten Personen, Männern wie Frauen, mit einer Hand ein flaches Gefäß, vermutlich eine Schale, darbot. Auffällig an dem sitzenden Jüngling war sein großes Flügelpaar, das an die christliche Darstellung von Engeln erinnerte. Wesen mit Engelsflügeln findet man sehr häufig auf etruskischen Abbildungen.
»Die Etrusker sind ein geheimnisvolles Volk, nicht wahr?«, fragte Elisa.
»Das kann man reinen Gewissens sagen«, stimmte ich ihr zu.
»Uns fehlen bis heute jegliche Hinweise auf ihre Herkunft. Es gibt darüber zwar verschiedene Theorien, aber keine davon vermag einer wissenschaftlichen Überprüfung standzuhalten.
Auch ihre Sprache – oder nennen wir es besser ihre Schrift –
liefert keinen Aufschluss. Sie scheint mit keiner anderen bekannten verwandt zu sein. Fast so, als seien die Etrusker aus dem Nichts aufgetaucht.«
»Und hier, wo wir uns jetzt befinden, hatten sie ihre Siedlungen«, fuhr Elisa fort.
»Ganz recht«, sagte ich, erstaunt über ihr Interesse an der alten Kultur der Etrusker; ein wenig fühlte ich mich an die Diskussionen mit ihrem Bruder im Institut von Ägypten erinnert. »Oberitalien gilt gewissermaßen als ihr Stammland, aber ihre Städte finden sich auch noch in Kampanien.«
Colonel Chenier sah mich fragend an. »Wieso nur
›gewissermaßen‹, Monsieur?«
»Wie ich eben erläuterte, fehlen uns nähere Hinweise auf die Herkunft dieses Volkes, mon colonel. Unter diesem Gesichtspunkt ist es ein wenig anmaßend, von einem Stammland zu sprechen. Aber man kann sagen, dass die Etrusker sich von hier aus über Italien verbreitet haben, bis sie der römischen Machtpolitik und dem römischen Heer unterlagen. Sulla hat das letzte Aufbäumen der Etrusker blutig niedergeschlagen, und in der Folgezeit ging dieses Volk in der römischen Kultur auf. Poetischere Geister sagen, es verschwand in das Nichts, aus dem es gekommen war.«
»Es gibt in der Geschichte der Menschheit immer wieder starke Nationen, deren eiserne Faust
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