Engelsfuerst
Wandbild.
»Hier in der Gegend befand sich eine der nördlichsten Etruskerstädte; es ist kaum etwas von ihr überliefert, wir kennen nicht einmal den Namen. Vielleicht
ist dies die einzige erhaltene bildliche Darstellung jener Stadt, und der eben erwähnte lateinische Text erzählt einen kleinen Teil ihrer Geschichte. Während
des Bundesgenossenkriegs kam es auch in dieser Stadt
zu heftigen Auseinandersetzungen darüber, ob man
Rom treu bleiben oder in den Kampf eintreten sollte.
Schließlich wurde die in der Stadt verehrte Tochter
der Weißen Göttin angerufen, den Streit zu schlichten
und im Namen der Muttergöttin zu entscheiden. Am
Ende war die Partei, die nach ihrer Entscheidung klein
beigeben mußte, so erbost, daß die helle Frau , wie sie
in der Überlieferung auch genannt wird, beinahe totgeschlagen worden wäre. Im letzten Augenblick
konnten Freunde und Verwandte sie retten.«
»Wie hatte sie sich entschieden?«
»Da fragen Sie mich zuviel. Genau der Teil des Textes ist nicht erhalten.«
»Die helle Frau«, sagte Enrico leise und fügte lauter
hinzu: »Ich nehme an, ihr richtiger Name ist nicht
überliefert.«
»Doch«, erwiderte der Abt. »Sie hieß Larthi.«
Enrico war plötzlich, als schwanke der Boden unter
ihm. Er mußte sich an der Felswand abstützen, um
nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Hitzewellen
überfluteten ihn, und er preßte die Stirn gegen die
kühle Felswand. Der Name hatte die unsichtbare Tür
geöffnet, die seine Träume von der Wirklichkeit
trennte. Jetzt mußte er dagegen ankämpfen, daß der
Traum in die Wirklichkeit überging, daß er den Na
men laut und verzweifelt hinausschrie.
»Was ist mit Ihnen?« fragte der Abt und legte ihm
die Hände auf die Schultern.
»Ich habe mich erinnert«, flüsterte Enrico, die Stirn
noch immer gegen den Fels gepreßt. »Larthi – so heißt
die Frau aus meinem Traum!«
6
Rom
W
as ist eigentlich zwischen Elena und dir vorgefallen?« fragte Stelvio Donati, der auf dem Beifahrersitz saß, während Alexander seinen Peugeot
über das ruckelige Pflaster der Via Appia lenkte.
Leichter Regen hatte eingesetzt, harmlos gegen die
Wolkenbrüche der vergangenen Nacht, und die
Scheibenwischer, die sich in immer gleichen Abständen in Bewegung setzten, schoben die Tropfen mühelos von der Windschutzscheibe. Alexander hatte nicht
richtig hingehört. Seine Gedanken kreisten um die
Geschehnisse der Nacht, und er machte sich Vorwürfe, weil er nicht an Elenas Seite gewesen war. Wären
sie noch ein Paar gewesen, privat wie beruflich, hätte
er sie vielleicht davor bewahren können, unter Mordverdacht zu geraten und im Polizeigewahrsam zu landen.
Donati, der Alexanders Schweigen anders deutete,
sagte: »Wir müssen nicht darüber reden. Du sollst nur
wissen, daß ich jederzeit für ein Gespräch da bin. Ich
hätte mich wohl früher um euch beide kümmern sollen, aber mein neuer Posten ist ein echter Zeitfresser.
Im Vergleich dazu habe ich eine ruhige Kugel geschoben, als ich noch ein einfacher Commissario war.«
Diesmal hatte Alexander zugehört und erwiderte:
»So ruhig waren die Zeiten damals auch nicht, Stelvio.
Jedenfalls nicht, seit wir uns kennen.«
»Das ist wahr«, räumte der Polizeidirektor grinsend
ein und klopfte gegen seine Beinprothese. »Gerade als
ich dachte, wegen meines Beins sei die Zeit der Aufregungen vorbei und der Innendienst fortan meine Berufung, seid ihr in mein Leben getreten, du und Elena.«
»Tja, und jetzt willst du wissen, was aus der großen
Liebe geworden ist.«
»Ihr beide liegt mir am Herzen, Alex. Ich möchte es
gern verstehen.«
»Es war der Alltag«, sagte Alexander, als könne das
alles erklären.
Donati schnaubte halb mißbilligend, halb spöttisch.
»Willst du mir erzählen, ihr hättet euch einfach so
auseinandergelebt? Wie ein altes Ehepaar, das sich irgendwann nichts mehr zu sagen hat, weil jeder sein eigenes Leben führt und seine eigenen Gedanken und
unerfüllten Träume hat? Das kaufe ich dir nicht ab,
Alex, nicht ihr beide! Vergiß nicht, neben dir sitzt ein
altgedienter Bulle, dem du nicht jede Geschichte auftischen kannst.«
»Bei uns war es eher das Gegenteil, wir haben zuviel zusammengehockt. Wir waren nicht nur privat
zusammen, sondern auch im Job, rund um die Uhr
quasi. Da fängt man an, den Streß mit nach Hause zu
nehmen. Es kommen ungute Emotionen auf, nenn es
Minderwertigkeitsgefühle, wenn du willst.«
Donati bedachte ihn mit einem zweifelnden Blick.
»Du und
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