Engelsfuerst
Laß
mich!«
Ein Fauchen wie von einem wütenden Raubtier
oder einer auflodernden Flamme ertönte, und das Wesen wich zurück; eine Feuerwand stand zwischen Enrico und ihm.
Enrico wußte nicht, wie er das geschafft hatte, doch
eins war klar: Die Anstrengung hatte ihn an den Rand
seiner Kräfte gebracht. Er brach zusammen und lag,
von krampfartigen Zuckungen geschüttelt, auf dem
steinernen Kerkerboden.
Dicht über sich erkannte er das ledrige Gesicht des
Abts, und er hörte ihn rufen: »Antonio, komm schnell
herunter und hilf mir! Er stirbt uns sonst!«
28
Vatikanstadt
D
er Gardeposten am Sant’Anna-Tor bestand aus
jungen Gardisten. Frische Gesichter, die Alexander nie gesehen hatte. Das war ihm ganz recht, denn
er war viel zu müde für ein Schwätzchen mit alten
Kameraden. Morgens war er noch in Florenz gewesen, jetzt, am frühen Nachmittag, lag eine anstrengende Autobahnfahrt hinter ihm.
Er blickte zu Donati hinüber, der auf dem Beifahrersitz saß und dumpf vor sich hin brütete. Der
Freund wirkte nicht nur müde, sondern bekümmert.
Er hatte allen Grund dazu, wenn die Theorie stimmte, die sie auf der Fahrt nach Rom entwickelt hatten.
Schon am Abend würden sie vermutlich mehr wissen.
Sie hatten kurz im römischen Polizeipräsidium auf
dem Quirinal Station gemacht, hatten dann Elena bei
ihrer Wohnung auf dem Gianicolo abgesetzt und waren weitergefahren zum Vatikan. Donati hatte telefonisch einen Termin mit Henri Luu vereinbart.
Während Alexander einen Parkplatz auf dem Damasushof ansteuerte, zeigte Donati, aus seiner Lethargie erwacht, in den Himmel jenseits des Vatikanischen
Geheimarchivs.
»Ist das nicht der päpstliche Hubschrauber, der da
aufsteigt?«
Alexander legte den Kopf schief, und sein Blick
folgte Donatis ausgestrecktem Finger.
»Ja, sieht ganz so aus. Ich wußte nicht, daß einer
der Päpste heute einen auswärtigen Termin hat.«
»Vielleicht wird ja auch ein wichtiger Gast vom
Flughafen abgeholt.«
Sie betraten den Apostolischen Palast, fuhren mit
dem Lift nach oben und wurden von einem Gardisten
zu Luus Büro begleitet. Der Privatsekretär von Papst
Custos stand, mit dem Rücken zu ihnen, hinter seinem klobigen Schreibtisch, auf dem sich Papierstapel
und Aktenordner türmten, und blickte hinaus in den
grauen Himmel, unter dem selbst die begrünten und
penibel gepflegten Vatikanischen Gärten trostlos aussahen.
»Beobachten Sie den Hubschrauber, Don Luu?«
fragte Alexander nach der Begrüßung. »Wir haben
eben bemerkt, daß er aufgestiegen ist.«
Auf Luus Stirn bildeten sich Sorgenfalten. »Seine
Heiligkeit, Papst Lucius, sitzt darin. Vor kurzem haben wir einen besorgniserregenden Anruf erhalten.«
»Inwiefern?«
»Nehmen wir erst einmal Platz«, sagte Luu, und sie
setzten sich. »Ich kann natürlich, wie immer, auf Ihre
Diskretion hoffen, nehme ich an.«
Donati wirkte ein wenig beleidigt. »Sonst säßen wir
nicht hier, Don Luu!«
»Natürlich, natürlich, entschuldigen Sie. Aber was
sich hier in letzter Zeit abspielt, bringt sogar meine
asiatische Hälfte dazu, ihren Gleichmut zu verlieren.«
Er blickte erneut aus dem Fenster, obwohl der Hubschrauber inzwischen einige Kilometer entfernt sein
mußte. »Papst Lucius ist unterwegs zu seinem Sohn,
dem es sehr schlecht gehen soll.«
»Enrico?« fragten Alexander und Donati fast mit
einer Stimme.
»Ja, Enrico Schreiber. Er hat die letzten Wochen,
wie ich soeben erfuhr, in einem kleinen Kloster in den
umbrischen Bergen verbracht, San Gervasio. Heute
rief ein Arzt an und teilte mit, daß Signor Schreiber
schwer erkrankt sei. So schwer, daß er nicht transportfähig ist. Offenbar hat Signor Schreiber dem Arzt
und dem Abt erzählt, daß er über eine enge Verbindung zum Heiligen Stuhl verfügt. Papst Lucius hat auf
Anraten von Papst Custos alle Termine abgesagt und
will seinen Sohn besuchen. Vielleicht kann der Heilige
Vater da weiterhelfen, wo die ärztliche Kunst versagt.«
Alexander und Donati verstanden die Anspielung
auf Lucius’ heilende Fähigkeiten.
»Welcher Art ist Enricos Erkrankung?« erkundigte
Alexander sich, aber Luu wußte es nicht.
Eine Seitentür wurde geöffnet, und der Eintretende
sagte: »Ich weiß leider auch nicht mehr darüber. Mein
Amtsbruder hatte es nach dem Telefonat mit dem
Arzt sehr eilig, was ich gut verstehen kann.«
Papst Custos begrüßte Alexander und Donati herzlich und erkundigte sich nach ihren jüngsten Erlebnissen. »Wie ich hörte, ist Erzbischof Guarducci zu Tode
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