Engelsfuerst
Florenz trat neben Donati
und sah ihm über die Schulter. Mit einem müden Lächeln sagte er: »Auch dafür gibt es bestimmt Spezialisten.«
27
San Gervasio
W
ar es Nacht oder Tag? Enrico wußte es nicht.
Sein fensterloser Kerker bot für die Beantwortung der Frage nicht den geringsten Anhaltspunkt.
Die Kerze war nur noch ein Stummel, um den sich ein
fast kunstvoll geformter Klumpen aus zerlaufenem
Wachs gebildet hatte. Wie lange brauchte eine Kerze
dieser Dicke, um herunterzubrennen?
Er hatte unruhig geschlafen, gequält von Traumdämonen, die ihn nicht zur Ruhe kommen ließen. Vielleicht war es eine Art Selbstschutz, daß er sich nur
undeutlich daran erinnern konnte.
Immerhin hatte Giuseppe ihm ein Kissen und eine
Wolldecke heruntergeworfen. Wahrlich keine bequeme Schlafstatt, aber besser als nichts. Durfte er das als
Zeichen dafür werten, daß die Mönche von San Gervasio es nicht so ganz schlecht mit ihm meinten?
Doch vermutlich schonten sie ihn nur, weil sie ihn
noch für ihre Pläne benötigten. Die Worte des Abts
waren deutlich gewesen.
Ihm war kalt. Er setzte sich auf das Kissen und zog
die Decke um seine Schultern, da hörte er über sich
die fast schon vertrauten Geräusche: das metallische
Schaben des Riegels und das leise Ächzen der Luke,
als sie angehoben wurde.
Ein blasses, verschlossenes Gesicht blinzelte prüfend zu ihm herunter. Es war das von Bruder Antonio,
der dem kargen Boden auf dem Berg einen kleinen
Kräutergarten abgetrotzt hatte und immer dann gefragt war, wenn einen der Mönche ein Leiden plagte.
Offenbar hatte Antonio, dessen Gesicht nach wenigen Sekunden wieder verschwand, von Giuseppe die
Wache übernommen. Enrico hörte, wie über ihm leise
ein paar Worte gewechselt wurden, dann kam Francesco zu ihm herunter und wünschte ihm mit monotoner, jeder Fröhlichkeit entbehrender Stimme einen
guten Morgen.
»Wie spät ist es?« fragte Enrico, ohne den Gruß zu
erwidern. »Es geht auf zehn Uhr zu. Wir haben dich
lange schlafen lassen, damit du dich erholen kannst.«
»Wirklich sehr rücksichtsvoll«, knurrte Enrico.
»Ich werde das Hotel weiterempfehlen, sofern ich dazu Gelegenheit haben sollte.«
Francesco blickte noch ernster drein als zuvor, erwiderte aber nichts, sondern packte Enricos Frühstück aus: eine Thermoskanne mit heißem Tee, Käse,
Wurst und Brot. Verhungern lassen wollten sie ihn offenbar nicht.
Obwohl ihm kalt war, konnte Enrico den heißen
Tee noch nicht trinken. Beim ersten Schluck verbrannte er sich Zunge und Gaumen. Deshalb widmete
er sich zunächst dem Essen, während Francesco sich
um seinen Fuß kümmerte, ihn erneut mit Salbe bestrich und frisch verband.
»Die Salbe von Bruder Antonio schlägt gut an«, sagte
Francesco. »Die Schwellung ist etwas zurückgegangen.«
»Eine Kur ist gar nichts im Vergleich zu einem
Aufenthalt in San Gervasio«, erwiderte Enrico mit
unverhohlener Bitterkeit und versuchte es erneut mit
dem Tee.
Das heiße Getränk tat ihm gut, und er leerte den
Becher mit einem Mal. Danach durchströmte ihn
wohlige Wärme, und er wollte sich zurücklehnen,
aber als sein Hinterkopf gegen das harte Mauerwerk
stieß, wurde ihm wieder bewußt, daß er nicht in einer
gemütlichen Teestube saß.
Wie hatte er das nur vergessen können? Er fühlte
sich leicht und unbeschwert. Ungeachtet der Kälte
und der tristen Umgebung war ihm behaglich. Als er
den leeren Becher abstellte, hatte er Mühe, seine Bewegungen zu koordinieren.
Das jugendliche Gesicht vor ihm wirkte bekümmert, und er hörte Francesco leise sagen: »Verzeih,
Enrico, aber ich mußte es tun.«
Ein Funke der Erkenntnis blitzte in Enricos
schwerfällig gewordenem Verstand auf: der Tee! Er
mußte eine Substanz beinhalten, die seine Sinne beeinträchtigte und schwerfällig werden ließ. Aber warum?
Je angestrengter er darüber nachdachte, desto müder
wurde er. Also schloß er die Augen, um sich ein wenig
auszuruhen.
Als er sie wieder öffnete, war Francesco verschwunden. Vor Enrico hockte der Abt und sprach zu ihm.
Tommasios Stimme mußte ihn aus dem Dämmerzustand geholt haben. Die Flamme einer neuen Kerze
tauchte das Gesicht des Abts in ein geisterhaftes Licht.
»Ah, dein Verstand ist in die Wirklichkeit zurückgekehrt«, sagte er. »Du fühlst dich hoffentlich einigermaßen wohl.«
»Wenn nicht, kann ich ja noch etwas von dem Tee
trinken.« Enrico hatte eine schwere Zunge wie nach
dem überreichlichen Genuß von Alkohol.
»Ich habe Bruder Antonio gebeten, diese
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