Engelsfuerst
diskutieren. Heute hatte sie erkannt, daß Laura sie getäuscht hatte, und das
reichte ihr für diesen Tag. Sie wollte nur noch allein
sein.
Sie blickte Alexander an und rang sich ein Lächeln
ab. »Ich komme schon allein zurecht, keine Sorge.«
Dann wünschte sie allen eine gute Nacht und verließ die Ruinen von Sant’Anna, die innerhalb von drei
Tagen schon zweimal zur Stätte großer Gefahr für sie
geworden waren. Vielleicht, schoß es ihr durch den
Kopf, war das Kloster tatsächlich verflucht.
33
San Gervasio
S
chwer atmend und schweißnaß schlug Enrico die
Augen auf und blinzelte in das Kerzenlicht. Das
besorgte Gesicht dicht über ihm kam ihm unwirklich
vor, es gehörte nicht hierher. Und doch war er nicht
überrascht, denn er hatte es schon in seinem Fiebertraum gesehen. Es hatte ihm zugelächelt und ihn aufgefordert, Vertrauen zu haben und Kraft zu schöpfen.
»Vater?« Enricos Stimme zitterte. »Wie kommst du
hierher? Wo … bin ich überhaupt?«
»Im Kloster von San Gervasio«, antwortete Papst
Lucius. »Man hat mich kommen lassen, als es dir
schlechtging.«
»Im Kloster.« Enrico überlegte und entsann sich
seiner Gefangenschaft. »Der Kerker! Sie haben mich
in einen unterirdischen Kerker gesperrt. Der Abt und
seine Mönche, Vater. Du bist in Gefahr!«
»Wir beide sind in Gefahr, Enrico, wir sind Gefangene der Mönche. Allerdings nicht in einem Kerker,
sondern im Krankenzimmer des Klosters. Aber das
bleibt sich gleich.
Vor der Tür steht ein bewaffneter Posten, damit wir
nicht fliehen. Und durch das kleine, vergitterte Fenster da vorn können wir uns nicht zwängen. Außerdem kämen wir nicht weit, du bist noch sehr
schwach.«
Die Worte seines Vaters verwirrten Enrico mehr,
als daß sie ihm Klarheit brachten.
»Wie ist das gekommen, Vater?«
Lucius berichtete von den Ereignissen der letzten
Stunden und schloß: »Ich habe Schüsse gehört, die
Schweizer sind nicht kampflos gestorben. Aber gestorben sind sie, für mich, ihren Papst. Wir sollten alles daransetzen, daß sie ihr Leben nicht umsonst hingegeben haben!«
»Aber wie?« Plötzlich leuchtete es in Enricos Augen auf, und er hob seinen Kopf, als könne er Hilfe
nahen sehen. »Wir werden gerettet, Vater, bestimmt!
Aus dem Vatikan werden sie Hilfe schicken, sobald
du vermißt wirst. Nicht mehr lange, und Einheiten
der Armee oder der Polizei werden hier sein!«
Lucius konnte die Euphorie seines Sohns nicht teilen. »So klug ist der Abt auch gewesen, Enrico. Er hat
angeordnet, das Kloster zu räumen. Uns werden sie
wohl mitnehmen.«
»Wohin?«
»Ich weiß es nicht. So detailliert hat Tommasio
mich nicht in seine Pläne eingeweiht. Ein seltsamer,
gefährlicher Mann mit noch gefährlicheren Plänen. Er
will, wie er sagte, das Engelsfeuer entfachen, wenn das
Kloster geräumt ist.«
Enrico sackte mutlos auf sein Kissen zurück, Entsetzen packte ihn. »Jetzt weiß ich, wohin er uns bringen will.«
Er erzählte seinem Vater von seinen Träumen und
den Rückführungen in die Zeit, als Teile des etruskischen Volkes sich ein letztes Mal gegen die römische
Herrschaft aufbäumen wollten, und schloß mit dem
Marsch zu jenem Ort, der zweitausend Jahre zuvor
Tempel der Ahnen genannt worden war.
Lucius hörte ruhig zu und schwieg, nachdem Enrico
seinen Bericht beendet hatte, eine ganze Weile. Schließlich sagte er leise, fast tonlos: »Es naht die Stunde, in
der sich der wahre Engelsfürst erweisen wird!«
»Der Engelsfürst?« wiederholte Enrico. »Von wem
sprichst du?«
»Ebendas ist die Frage, von deren Beantwortung alles abhängt, womöglich das Schicksal der Welt.« Lucius umfaßte mit beiden Händen Enricos Rechte und
sah ihm tief in die Augen. »Mein Sohn, bist du bereit,
mit mir zusammen gegen das Böse zu kämpfen, auch
wenn es uns das Leben kosten kann?«
»Ja«, sagte Enrico, der im Gesicht seines Vaters
große Sorge entdeckte, aber zugleich auch Gefaßtheit,
vielleicht sogar Zuversicht. »Was hat es mit dem wahren Engelsfürst auf sich?«
»Wir befinden uns in einer bedeutenden Phase des
Kampfes, in dem das Licht gegen die Dunkelheit streitet, das Gute gegen das Böse. In der sich entscheiden
wird, ob die Engel des Herrn oder die gefallenen Engel bestehen und die Menschheit leiten werden.«
»So wie damals am Engelssee?«
»So ähnlich, ja. Damals hoffte ich, wir hätten das
Böse besiegt. Aber es war nur ein Vorspiel zu der
endgültigen Auseinandersetzung.«
»Und die steht uns bevor?«
»Ich fürchte, wir
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