Engelsgrab
kannte er zur Genüge. Wie ein Masochist ließ man ein Ereignis immer wieder aufs Neue Revue passieren und stellte sich vor, was man anders hätte machen können. Brady wusste, dass es eine quälende, nutzlose Übung war.
Aus einem Impuls heraus legte er seine Arme um Kates zarte Schultern und zog sie an sich. Er hielt sie fest und wartete darauf, dass sie sich wieder beruhigte. Es tat ihm gut zu spüren, wie sie sich an ihn schmiegte, ihren Duft zu riechen und für einen Moment zu glauben, nichts hätte sich geändert. Dass sie immer noch ihm gehörte und es keinen Jimmy Matthews gab, der sich vor langen Jahren zwischen sie gedrängt hatte.
Bradys Gedanken wanderten zurück. Er erinnerte sich an den Streit, den er mit Kate gehabt hatte. Es ging um seinen jüngeren Bruder oder vielmehr darum, dass Brady ihn suchen wollte, denn es gab Gerüchte, nach denen er sich mit einer Bande aus Wallsend eingelassen und sich dann urplötzlich nach London abgesetzt hatte. Brady und Kate trennten sich im Bösen, und doch hatte er nicht damit gerechnet, dass sie bei seiner Rückkehr einen anderen haben würde. Oder schlimmer noch, dass dieser andere Jimmy Matthews sein konnte. Damals war Jimmy sein bester Freund. Zu der Zeit waren sie alle drei befreundet gewesen, aber Brady hatte Jimmy vertraut. Im Rückblick wurde ihm klar, dass Jimmy von Anfang an ein Auge auf Kate geworfen und er ihm den Weg freigemacht hatte. Als Brady aus London zurückkam, war Kate bereits mit Evie schwanger und heiratete Matthews sechs Monate später.
Damals litt Brady wie ein Hund, und eine Zeit lang spielte er mit dem Gedanken, Matthews zu packen und zusammenzuschlagen, doch stattdessen trat er den Rückzug an. Nur manchmal ging ihm durch den Kopf, wie schön es gewesen wäre, mit Kate ein Kind zu haben, eine Familie zu gründen und ein Heim einzurichten. Mit der Zeit hatte er sich abgefunden. Wie so oft hatte das Lebens ihm eins übergebraten, als er es am wenigstens erwartet hatte. Er hatte Kate nie gefragt, ob sie sich Matthews zugewandt hatte, um ihm eins auszuwischen, denn er hielt es für offenkundig. Dass sie mit Matthews nicht glücklich geworden war, wusste er, aber er war nicht kleinlich genug, um sich darüber zu freuen.
»Jack«, wisperte Kate an seiner Brust und holte ihn in die Gegenwart zurück. »Ich weiß nicht mehr aus noch ein.«
Brady ging davon aus, dass sie von ihrer Ehe sprach, und strich ihr besänftigend über den Rücken.
»Was ist denn hier los?«, fragte eine Stimme hinter ihnen.
Kate entzog sich Bradys Umarmung und fuhr herum.
»Evie? Was machst du denn hier? Ich dachte, du fühlst dich nicht wohl und hättest dich hingelegt?« Schuldbewusst trat Kate ein Stück von Brady zurück.
Auch Brady brauchte einen Moment, um sich zu fangen. Dann musterte er das Mädchen, das er kaum wiedererkannte. Sie war nicht nur älter, als er sie in Erinnerung hatte, sondern wirkte extrem mitgenommen, mit verquollenem Gesicht und dunklen Rändern unter den blutunterlaufenen Augen.
Kate ging zu ihrer Tochter und legte ihr eine Hand auf die Stirn.
»Fass mich nicht an«, fauchte Evie und stieß die Hand ihrer Mutter weg.
»Evie, bitte«, sagte Kate. »Nicht in diesem Ton.«
»Was hat der hier zu suchen?«, fragte Evie mit angewiderter Miene und ließ sich auf einen Stuhl am Küchentisch fallen.
Schweigend betrachtete Brady das junge Mädchen und konnte nicht fassen, wie sehr sie ihrem Vater glich. Früher hatte er sich bisweilen gefragt, ob sie seine Tochter sein konnte, aber den Gedanken hakte er jetzt ein für allemal ab.
Wann er Evie zuletzt gesehen hatte, wusste Brady nicht mehr, aber es musste lange her sein, denn von dem Kind, das er kannte, war nichts mehr geblieben. Wie Sophie trug sie ihr blondes Haar lang und glatt, und auch ihr Körper wirkte bereits wie der einer jungen Frau statt eines fünfzehnjährigen Mädchens. Zumindest konnte er jetzt nachvollziehen, dass Matthews im ersten Augenblick geglaubt hatte, die Ermordete wäre seine Tochter.
Schon jetzt war sie größer als ihre Mutter, auch schwerer gebaut und üppiger. Mindestens auf achtzehn hätte Brady sie geschätzt. Er versuchte in dem verdrossenen Teenager das Kind mit den ungelenken Fohlenbeinen und den ständig aufgeschürften Knien wiederzuerkennen. Das sich gefreut hatte, wenn er kam, statt dazusitzen und ihn zornig anzustarren. Auch die Fragen, die er Evie stellen musste, würden ihm keine Pluspunkte eintragen.
»Du hast dich ganz schön verändert«, begann
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