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Engelsjagd - Gunschera, A: Engelsjagd

Engelsjagd - Gunschera, A: Engelsjagd

Titel: Engelsjagd - Gunschera, A: Engelsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Gunschera
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zugleich.
    Sie kannten nun das Antlitz der zwei Frauen, die eine ein silbriger Wasserfall, die andere Mitternachtssamt. Er hatte seine Sehnsucht mit ihnen geteilt und seine Ängste. Sie wussten um seine Suche. Und suchten mit ihm, um wiederzufinden, was vor Äonen verloren gegangen war.
    Ein Echo kehrte zu ihm zurück. Ganz leicht nur, ein einzelner Flügelschlag. Er sah, was der Bote sah. Spürte den Samt auf seinem Gesicht. Das Antlitz einer Frau. Das Haar ein Wasserfall aus Silber. Ein Flügelschlag trug ihn höher hinauf, über Brücken und Dächer. Er starrte hinab auf die Lichter und ließ sich fallen. Sank lautlos nach unten, bis er die Baumkronen streifte. Dann konnte er sie sehen.
    Schön und unnahbar und eingehüllt in einen Panzer aus Härte, den er nicht an ihr kannte. Sie hatte ihr Haar in einen Knoten geschlungen. Allein saß sie dort und schrieb etwas nieder. Doch er spürte andere, außerhalb seiner Sicht. Andere vom älteren Blut, die über sie wachten. Schwach floss es in ihren Adern, verwässert über die Generationen, doch unverkennbar. Nicht sein Blut, aber das seiner Brüder.
    Asâêl war überwältigt vom Anblick der Frau, überwältigt von einem Mahlstrom aus Erinnerungen, die in seinem Geist aufstoben wie trockene Blätter, in die ein Windstoß fährt. Leidenschaft und eine Liebe, so umfassend, dass er alles dafür hingeben wollte. Und hatte er das nicht getan? Tausend Jahre Kerker, war das nicht genug der Buße? Dazwischen drehten sich dunklere Scherben, die nach Verrat schmeckten, nach Tränen und Blut.
    Verzweifelt suchte er nach einem Muster in den Emotionen, einem Schlüssel, um das Chaos in ein lesbares Bild zu verwandeln. Wie rasend tastete er nach einer Erinnerung, nur einer einzigen, die nicht zerbrochen war. Was war geschehen, dass der Anblick dieser Frau gleichzeitig Liebe und Hass weckte? Sie hatte ihm etwas gegeben, doch sie hatte auch etwas genommen. Was war das?
    Er versuchte, in ihre Gedanken einzudringen und stieß gegen eine Barriere. Wie war das möglich? Kein Mensch konnte seinen Geist vor Asâêl verschließen. Kein Mensch und kein Kind vom älteren Blut.
    In seinem Inneren tobten widerstreitende Gefühle. Er wollte aus dem Schatten treten, damit sie ihn sehen konnte, wollte die Hand ausstrecken und ihr silberblondes Haar berühren, ihre Wangen, ihre perfekten roten Lippen.
    Doch eine böse Ahnung hielt ihn zurück, ein Widerhall von Leid. Ein Teil seines Bewusstseins schauderte bei der Vorstellung, dieser Frau in die Augen zu sehen.
    Es machte ihn schier wahnsinnig, dass seine Erinnerungen noch immer unvollständig waren. All diese Bilder, Gerüche, Gedanken. Genug, um Leidenschaft aufzustören. Doch nicht genug, um zu verstehen, warum er sie empfand. Er wusste nicht, was zwischen ihm und dieser Frau war. Hatten sie einander geliebt? Kinder gezeugt? Gab es Nachkommen dort draußen, Abkömmlinge seines Blutes? Die Nachtfalter spiegelten das Chaos in seinem Geist, seine Unschlüssigkeit. Wild taumelten sie um seine Glieder, stürzten und stiegen um ihn auf. Hatte sie ihn verletzt? Ihn verraten? Ihm etwas Unersetzliches entrissen? Asâêl konnte nicht einmal erkennen, ob es sein Hass war oder ihrer, der wie schwarze Tinte aus den Rissen in seinem Gedächtnis quoll. Erschöpft sank er nach vorn und stützte sich mit den Handflächen auf den Stein. Wind strich über seine Flügel. Zwei Gesichter waren es, zwei Frauen. Mitternachtsschwarz, gesponnenes Silber. Sein stummer Ruf schwang hinaus in die Weite. Zwei waren es, nicht eine. Er musste die zweite finden.

    „Ich bin Violet.“ Die Pistole in ihrer Rechten wurde allmählich schwer. Sie stabilisierte das Handgelenk mit ihrer zweiten Hand. „Violet, Sie erinnern sich? Die Frau, deren Anrufe Sie ignorieren.“
    „Das tut mir leid.“ Stephans Lächeln vertiefte sich. „Erschießen Sie Männer normalerweise, wenn sie nicht zurückrufen?“
    Sie zog eine Braue hoch. Es schien ihn wirklich nicht zu kümmern, dass eine Waffe auf ihn gerichtet war. Im Gegenteil. Sein flirtender Tonfall brachte sie gelinde gesagt aus dem Konzept.
    „Nicht, wenn Sie mir sagen, wo ich meine Schwester finde. Dann lasse ich Gnade vor Recht ergehen.“ Täuschte sie sich oder blitzte da ein Riss in seinem Lächeln auf?
    „Möchten Sie etwas trinken? Wein? Zitronenlimonade? Oder lieber einen Espresso?“
    „Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“
    Stephan bückte sich und hob den Aktenkoffer wieder auf. Er tat es langsam, ohne hastige

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