Engelsjagd - Gunschera, A: Engelsjagd
Bewegungen. Offenbar war es nicht das erste Mal, dass jemand mit einer Pistole auf ihn zielte. Ungerührt trat er an ihr vorbei zum Schreibtisch und platzierte das Köfferchen auf der Glasplatte. Er betätigte einen Schalter an der Wand. Eine Reihe von Holzpanelen drehte sich und enthüllte eine geräumige Küche auf der anderen Seite, mit Fronten aus geschliffenem Stahl. Violet wartete noch einen Moment länger, dann ließ sie die Pistole sinken. Es machte sowieso keinen Unterschied. Sie hatte nicht vor, Stephan zu erschießen und als Einschüchterung zog die Waffe nicht.
„Danke“, sagte er. „Nette Schuhe übrigens.“
Sie zuckte mit den Schultern. „High Heels machen sich schlecht beim Klettern.“
„Sie sind geklettert?“ Zum ersten Mal blitzte Fassungslosigkeit in seinen Augen auf. „Ich dachte, Sie hätten die Putzleute bestochen.“
„Die Putzleute sind unschuldig.“
Er öffnete den Kühlschrank, nahm eine Karaffe heraus und schenkte sich ein Glas ein. „Warum haben Sie nicht einfach an der Tür geklingelt?“
„Hätten Sie mich reingelassen?“
„Vielleicht.“ Er verzog einen Mundwinkel. „Ich bin ein neugieriger Mensch.“
Der spielerische Ton dieser Konversation fühlte sich bizarr an. Als ob kein Grund zur Sorge bestand. Als ob alles nur ein Missverständnis war, sie nur miteinander reden mussten. Stephans Charme war überwältigend, ohne aufgesetzt zu wirken. Es kostete sie körperliche Mühe, sich nicht zu entspannen, sich nicht von diesem warmen Strom aus Worten und Blicken und Gesten mitziehen zu lassen. Stephan schenkteein zweites Glas mit Limonade ein und reichte es ihr.
„Sollen wir uns vielleicht setzen?“
Sie überlegte, ob sie ihn direkt mit der VORTEC Geschichte konfrontieren sollte. Im Augenblick nahm er an, dass sie nur auf der Suche nach Emily war, und gab sich deshalb unbefangen. Er wusste nichts von ihren Ermittlungen um VORTECs Sangrin-Tests und erst recht nicht von ihrer Beteiligung am Anschlag auf das Labor. Vielleicht war es besser, wenn sie ihn vorerst in diesem Glauben ließ.
„Wo ist Emily?“
„Ich habe es Ihnen schon am Telefon gesagt. Es geht ihr gut. Sie will ein bisschen Abstand vom Alltag. Ist das zu viel verlangt?“
„Sie ist nicht auf Hawaii.“
„Woher wollen Sie das wissen?“
„Weil ich mit ihrer Putzfrau gesprochen habe.“ Ihre Stimme schwoll an. Sie redete sich in Wut. Doch es war ein kontrollierter Ausbruch, eine Rage, die sie sorgfältig kultivierte. Mit mehr Schwung als notwendig stellte sie ihr Glas auf die Schreibtischplatte. Spritzer flogen über den Rand und trafen ihren Handrücken. „Der gleichen Frau, die vor zwei Tagen in Emilys Haus ermordet wurde, weil sie das Pech hatte, ein paar Killern in die Arme zu laufen, die hinter Emily her waren.“
Der Wandel auf Stephans Gesicht war unheimlich. Das liebenswürdige Lächeln fiel ab wie eine gebrauchte Haut. Dahinter kam schneidende Härte zum Vorschein, die sie innerlich zurückprallen ließ. Dieser Mann war nicht, was er vorgab, zu sein. Instinktiv zog sie die Pistole wieder hoch.
Einen Moment später fand sie sich in Stephans Umklammerung wieder. Gott, wie hatte er das gemacht? Schweiß brach ihr aus. Er hatte die Distanz zwischen ihnen so rasch überbrückt, dass sie den Ansatz seiner Bewegung nicht wahrgenommen hatte. Seine Finger schlossen sich wie Stahlklammern um ihr Handgelenk. Er entwand ihr die Pistole, dann ließ er sie abrupt los.
„Was ist mit Emilys Haus?“ In seiner Stimme schwang ein bedrohlicher Ton.
Was zur Hölle sollte diese Frage? Ärger flammte ihn ihr auf und überlagerte die Panik. „Vielleicht sollten Sie das Ihre eigenen Leute fragen!“
„Ich ...“ Er brach ab und starrte an ihr vorbei ins Leere. „Ich schwöre, ich weiß nichts von diesem Übergriff. Was ist geschehen?“
Seltsamerweise fühlte seine Beteuerung sich wahrhaftig an. Sie hätte schwören können, dass er nicht log. Was hatte das nun wieder zu bedeuten?
„Haben Sie keine Nachrichten gelesen?“
Er schüttelte den Kopf.
„Die Nachbarn haben die Cops gerufen, weil sie verdächtige Männer bei Emilys Haus gesehen haben. Als die Polizei auftauchte, sind die Typen geflohen. Alles, was die Officers gefunden haben, war Inez’ Leiche in einer Blutlache.“ Sie wich Stephans Blick nicht aus. „Die Putzfrau war nur zufällig im Haus. Ich bin mir sicher, dass die Killer eigentlich hinter Emily her waren.“
Stephan warf die Pistole aufs Sofa und fuhr sich mit beiden Händen
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