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Engelsjagd - Gunschera, A: Engelsjagd

Engelsjagd - Gunschera, A: Engelsjagd

Titel: Engelsjagd - Gunschera, A: Engelsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Gunschera
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fragte sie mit Nachdruck, „was ist das für ein Ring?“
    „Ein Geschenk.“ Seine Stimme war so leise, als spräche er mit sich selbst.

    „Ein ganz besonderes Geschenk.“ Gabriel betrachtete den Efeu an der gegenüberliegenden Mauer. Das Licht der Straßenlaternen färbte die Blätter rötlich und braun.
    Warum waren es vor allem die Schrecken, die sich so klar in seine Erinnerungen brannten, dass sie auch nach vierhundert Jahren noch dazu taugten, ihm Albträume zu bescheren? Ohnmacht, Entsetzen, die Schreie einer Frau. Er erinnerte sich an die Waschmagd, die sie im Unterholz gefunden hatten, ein Stück abseits vom Lager. Er konnte sogar ihr Gesicht vor seinem geistigen Auge heraufbeschwören. Oder das, was davon übrig geblieben war. Der Geruch von Nebel und Sumpfwasser und kaltem Wintergras zwischen den Bäumen. Wölfe durchstreiften die böhmischen Wälder, doch das hier war nicht das Werk der grauen Räuber. Fünfzehnhundert Männer waren bei der Niederlage von Sablat gefallen, die übrigen in kleine Grüppchen versprengt. Nachdem Wallensteins Reiterei das böhmische Heer zerschmettert hatte, flohen die Überlebenden nach Süden, plünderten Dörfer auf ihrem Weg und suchten nach einem Ort, an dem sie sich verschanzen und ihre Verwundeten versorgen konnten.
    Gabriel streckte seine Hand nach Violet aus und spielte mit ihrem Haar. Er hatte nie zuvor jemandem erzählt, was damals geschehen war, in den winterlichen Wäldern von Böhmen. Doch etwas an Violet brachte ihn dazu, dieses spezielle Siegel zu brechen. Ihre Wärme nahm den Bildern die Schärfe. Noch während ihm die Worte über die Lippen gingen, spürte er, wie die Last erträglicher wurde.
    „Wir waren zu dritt“, sagte er. „Kampfgefährten. Wir dienten in den Söldnerarmeen Europas. Stephan von Doubravice, Lorenz Bucquoy und ich. 1618 warb Graf Ernst von Mansfeld im Auftrag der böhmischen Stände ein Heer an, um gegen die Habsburger zu ziehen.“
    „1618“, wiederholte Violet. Um ihre Lippen zuckte ein unstetes Lächeln. „Was war das? Der Dreißigjährige Krieg? Mein Gott, ich kann mir das kaum vorstellen. Du hast das Europa des siebzehnten Jahrhunderts gesehen? Die europäischen Königshöfe, prachtvolle Empfänge, die ...“
    „Tuberkulose. Pestscheiterhaufen. Der Gestank in den Städten, die Straßen ein Pfuhl aus Jauche und knietiefem Morast. Und die Schlachtfelder ...“
    Ihr Lächeln verblasste. „Schon gut. Ich nehme an, meine Vorstellung vom alten Europa ist zu romantisch.“
    „Ich habe fast zweihundert Jahre in Kriegen verbracht. Vielleicht habe ich zu viel Tod gesehen. Die meisten meiner Erinnerungen an Europa bestehen aus Blut und Flammen.“
    Lorenz hatte er in einer Gosse in Venedig getroffen, nach einer Kneipenschlägerei. Instinktiv hatten sie einander erkannt, hatten gespürt, dass sie beide vom Blut waren. Lorenz’ Tod hatte er lange nicht verwinden können. Und Stephan ...
    „Ich kenne Stephan, seit wir Kinder waren. Er war ein Waisenjunge, verstört und überwältigt von seinen eigenen Kräften. Mein Vater hat ihn aufgenommen, als ich zehn Jahre alt war.“ Ein elendes Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. Wenn es wirklich Stephan war, der Stephan von Doubravice, was sollte er dann tun?
    Nach den entsetzlichen Ereignissen, die auf die Schlacht von Sablat folgten, hatten sie sich aus den Augen verloren. Es hatte Zeiten gegeben, in denen Gabriel sich fragte, ob Stephan überhaupt noch lebte. Ob er nicht längst mit dem Schwert in der Hand den Tod gefunden hatte, in einem gottvergessenen Winkel Europas. Vielleicht war sein Leichnam seit zweihundert Jahren zu Erde zerfallen.
    „Die Ringe waren ein Geschenk des Königs von Ungarn, der Dank für eine gewonnene Schlacht.“ Gabriel stieß den Atem aus. „Jeder einzelne davon ein kleines Lehen wert. Sein Hofjuwelier fertigte nur drei Stück – für Stephan, für Lorenz und für mich.“ Er zog das Schmuckstück ab und drehte es so, dass Violet die Innenseite betrachten konnte. „Die Inschrift ist ein königlicher Geleitbrief.“ Ein humorloses Lachen löste sich aus seiner Kehle. „Als der ungarische Thron an die Habsburger fiel, war es natürlich klüger, diese Gravur zu verstecken.“
    Er schob den Reif zurück auf den Finger. Sie alle hatten mit dem Kriegsgewerbe ein Vermögen gemacht. Über die Jahrzehnte hatten die Ringe einen symbolischen Wert gewonnen, der weit über den materiellen hinausging. Die Drachenringe standen für Loyalität, für

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