Engelsjagd - Gunschera, A: Engelsjagd
Tür hinter Keith ins Schloss gefallen war. Violet starrte auf den Zettel mit der Telefonnummer, dann glitt ihr Blick zurück zu Gabriel, der reglos dort lag, wo Keith ihn gebettet hatte. Auf seinem Kinn glänzte ein dünner Faden Blut. Keith’ Blut? Der Gedanke ließ sie schaudern.
Großer Gott, was für eine Nacht. Dabei hatte sie gedacht, nach Marv waren ihre Begegnungen der dritten Art nicht mehr steigerungsfähig. Was passierte als Nächstes? Ihre Schwester, die in Gestalt einer dreiköpfigen Medusa auftauchte? Der lahme Witz, selbst unausgesprochen, hinterließ einen schlechten Geschmack in ihrem Mund. Zu nahe schrammte er an den jüngsten Ereignissen.
Das Wohnzimmer stank nach Chemikalien und Kloake. Stirnrunzelnd musterte sie Gabriels klatschnasse Jeans und seine Wildlederjacke, an deren Saum sich ein Rinnsal bildete. Schwarze Tropfen lösten sich ab und versickerten im Teppich. Großartig. Seine Klamotten waren durchtränkt mit der Brühe. Zögernd streckte sie eine Hand aus und berührte sein Gesicht. Keith’ Drohung war überflüssig. Bei der Vorstellung, Gabriel könne sterben, krampfte sich ihr Herz zu einem Eisklumpen zusammen.
„Wach auf, du Mistkerl“, flüsterte sie. „Ich habe nicht Kopf und Kragen für dich riskiert, damit du mir unter der Hand wegstirbst.“
Sein Atem flatterte unstet gegen ihre Handfläche. Sie tastete nach seinem Puls. Zu ihrer Verblüffung raste sein Herz, doch mit so schwacher Intensität, dass sie es kaum spüren konnte. Seine Haut fühlte sich kalt an. Viel zu kalt.
Warum zur Hölle machte sich Keith aus dem Staub, wenn ihm so viel an seinem Freund lag? Im Gegensatz zu ihr schien er wenigstens zu wissen, was gut für Gabriel war.
„Okay“, sie zerrte an seinen Boots, „dann wollen wir dich mal aus den Klamotten holen.“ Sie redete mit ihm, als würde er jedes Wort hören. Das war es, was sie in ihrem Innersten hoffte. Dass sie ihn an das Hier und Jetzt ketten konnte, wenn sie nur die Worte nicht abreißen ließ. Die Jacke klebte an seinem Leib wie eine zweite Haut. Es kostete Kraft, seinen Oberkörper hochzuwuchten, damit sie ihm das Ding von den Armen ziehen konnte.
„Du könntest mir ein bisschen helfen“, keuchte sie. „Was hattest du überhaupt in den Kanälen zu suchen?“ Sie verlor fast das Gleichgewicht, als der Stoff sich endlich löste. Etwas klimperte metallisch, als das Leder zu Boden sank. Sie bückte sich und ertastete ein Kettchen, das irgendwo festhing, zog daran und befreite auch den Anhänger aus den Lederfalten. Eine Libelle.
Ihre Libelle.
Ihr wurde heiß, während sie auf das kleine Glitzerding starrte. Shit, er hatte es gefunden und die ganze Zeit mit sich herumgetragen? Was zur Hölle hatte das zu bedeuten? Und was trieb ihn überhaupt in die Stadt?
Eine Welle romantischer Aufregung spülte über sie hinweg. Doch dann kam sie sich vor wie ein Idiot, wie sie auf das Kettchen starrte, als sei es ein zehnkarätiger Verlobungsring mit Herzchengravur und ihren Initialen. Wahrscheinlich hatte er das Ding gefunden, einfach eingesteckt und vergessen. Der Gedanke versetzte ihr einen Stich, aber half ihr auch, sich aus der Trance loszureißen und auf das Naheliegende zu konzentrieren.
„Weiter“, murmelte sie. Sie warf die Kette auf den Tisch zur Pistole und zerriss den dünnen Stoff seines T-Shirts, um das durchweichte Kleidungsstück zu entfernen. „Tut mir leid.“
Darunter kamen zwei hässliche Wunden zum Vorschein. Violet schluckte hart beim Anblick seines zerschundenen Körpers. Ein langer Schnitt zog sich von seiner Schulter quer über die Brust. Eine zweite, tiefere Verletzung klaffte seitlich unter seinen Rippen. Zwischen den rot entzündeten Wundrändern sickerte Blut hervor.
Oh Mann. Soviel zu Keith’ Erklärung, Gabriel brauche keinen Doktor. Was sollte sie jetzt machen? Beten und auf ein göttliches Zeichen hoffen? Wieso setzte die verdammte Wunderheilung nicht ein? Wieso lag er einfach da wie tot, aschfahl und mit flachem Atem?
Sie legte eine Hand auf seinen Bauch, bis Kälte in ihre Finger sank. „Wach auf, du Bastard. Wag nicht, dich davonzustehlen.“
Mit einem tiefen Atemzug machte sie sich an den Knöpfen seiner Jeans zu schaffen. Zu einer anderen Zeit wäre das ein erregendes Spiel gewesen, aber nun tötete die Angst um sein Leben jede erotische Fantasie im Ansatz. Zu allem Überfluss erwies sich der durchnässte Stoff als besonders widerspenstig und machte den Job zu körperlicher Schwerstarbeit. „Ich
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