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Engelskraut

Engelskraut

Titel: Engelskraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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das alles nicht mehr in den Ecken türmte? Vielleicht würde sie sich sogar befreit fühlen.
    Sie begann zu blättern. Franca als Kleinkind mit Mama im Garten. Papa und Mama im Delikatessengeschäft im Entenpfuhl. Franca an Ostern mit einem kleinen lebendigen Hasen aus der Nachbarschaft. Franca beim Eiersuchen. Franca an Weihnachten unterm Tannenbaum mit einer Puppe im Arm. Die Puppe gab es noch. Mandy hatte sie sie genannt. Das klang fremd und exotisch. Jedenfalls hieß niemand, den sie kannte, Mandy. Sie hatte gern mit ihr gespielt. Obwohl sie auch Jungenspielen gegenüber nicht abgeneigt war. Mit Vorliebe war sie auf Bäume geklettert. Oder hatte mit den Jungs aus der Pfaffendorfer Nachbarschaft ein Baumhaus im Gestrüpp am Rheinufer gebaut, das irgendwann eingestürzt und ins Wasser gefallen war. Unglücklicherweise war Franca gerade in diesem Moment oben gewesen und sie war mitsamt den locker zusammengenagelten Brettern im Rhein gelandet. Die Jungs hatten sofort reagiert und sie aus dem Wasser gezogen. Sonst hätte es schlimm enden können. Aber als Kind machte man sich keine Gedanken um solcherlei Konsequenzen. Und ihre Eltern hatten die Ernsthaftigkeit der Situation nie erfahren.
    Da war ein Klassenfoto. Jungs und Mädchen standen in einer Gruppe zusammen, Franca gleich in der vorderen Reihe. Ihre Frisur war schrecklich, die Haare wirkten wie von Mäusen angeknabbert. Sie hatte den Kopf schief gelegt und lächelte in die Kamera. Den Rock hatte eine ihrer Tanten gestrickt. Dazu eine passende Weste. Ihre Klassenkameraden waren, der Zeit entsprechend, ähnlich gekleidet. Manche der Gesichter auf dem Foto konnte sie sofort zuordnen, bei anderen waren ihr die Namen entfallen, aber sie wusste noch ungefähr, wo sie im Klassenraum gesessen hatten.
    Sie brauchte eine Weile, bis sie Ludmilla gefunden hatte. Da war sie. In der hintersten Reihe, sehr unscheinbar, obwohl sie ziemlich groß war. Sie trug die Haare zu Zöpfen geflochten, darunter lugten ihre abstehenden Ohren hervor. Die dunkelrandige Brille war wirklich nicht schön, eins der üblichen Kassengestelle, das auch heute unter Gleichaltrigen zu Hänseleien Anlass geben würde.
    Franca versuchte, sich die Namen ihrer früheren Schulkameraden zu vergegenwärtigen. Da waren Robert und Isabelle, die bereits zur Schulzeit ein Paar waren und später geheiratet hatten. Francas Mutter hielt sie mit solchen Nachrichten stets auf dem Laufenden. Zwei ihrer Mitschüler waren bereits tot. Manfred Kienzle und Mecky, dessen richtiger Name ihr nicht sofort einfiel. Franca betrachtete die kindlichen Gesichter. Es war merkwürdig, sich vorzustellen, dass die beiden Jungen, die genauso alt gewesen waren wie sie, nicht mehr existierten. Der stille, etwas blasse Manfred war mit 18 Jahren bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen, kurz nachdem er die Führerscheinprüfung bestanden hatte. Und der andere Junge, der wegen seines extremen Kurzhaarschnitts Mecky genannt wurde? An seine Todesursache konnte sie sich nicht mehr genau erinnern. War er nicht im Rhein ertrunken? Doch, ja, das war es. Auch er war viel zu jung gewesen, als er starb.
    Franca blätterte weiter. Es gab kein weiteres Foto im Album, auf dem Ludmilla abgebildet gewesen wäre.
    Sie wusste das widersprüchliche Gefühl, das sie empfand, seit sie ihrer Klassenkameradin wiederbegegnet war, nicht so recht einzuordnen. Einerseits war da ein vages Glücksempfinden, jemanden aus einer anderen Epoche, die zu ihrem Leben gehörte, zufällig wiedergetroffen und damit ein Stück aus der Vergangenheit gegenwärtig gemacht zu haben. Andererseits nagte da dieses diffuse Schuldgefühl in ihrem Inneren, das sich immer mehr verstärkte, je mehr sie es zu ergründen versuchte.
    Franca hatte stets einige Freundinnen um sich versammelt. Sie war ein beliebtes Kind. Dass ihr Vater Inhaber eines Delikatessenladens war, in dem Schokolade nicht nur verkauft, sondern großzügig an Kinder verschenkt wurde, trug sicher ebenfalls zu ihrer Beliebtheit bei. Franca musste schmunzeln, als sie daran dachte, dass die Baci, diese italienischen Schoko-Nuss-Pralinen, die mit einem Sinnspruch umwickelt waren und in einer blauen Dose mit silbernen Sternen hinter der Ladentheke standen, nur besonderen Gästen vorbehalten waren. Und diese besonderen Gäste waren sie selbst und ihre engsten Freundinnen. Wozu Ludmilla ganz sicher nicht gehörte. Dieses dickliche, rothaarige Mädchen, das immer am Rande stand, mit dem niemand spielen wollte. Und das stets

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