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Engelskraut

Engelskraut

Titel: Engelskraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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allein den Schulweg antrat.
    Allerlei ging Franca durch den Kopf. Immer mehr Erinnerungsfetzen verwandelten sich in konkrete Bilder mit scharfen Konturen. Einmal war Ludmilla vor versammelter Mannschaft als Bettnässerin bezeichnet worden, weil jemand aus der Nachbarschaft beobachtet hatte, dass bei ihr zu Hause im Garten ständig Bettwäsche zum Trocknen aufgehängt wurde.
    Kinder konnten grausam sein. Hatten sie einmal ein Opfer gefunden, auf dem es sich herumhacken ließ, kannten ihre Sticheleien keine Grenzen. Ludmilla war das ideale Opfer gewesen. Stumm und mit rot glühenden Ohren hatte sie alle Anfeindungen ertragen. Niemand hatte ihr beigestanden. Was mochte damals in ihr vorgegangen sein?
    Eine weitere Episode fiel Franca ein, zunächst schemenhaft, dann immer deutlicher: Die Lehrerin, Frau Schöbel, hatte eine Skizze mit den Flüssen Rhein und Mosel an die Tafel gemalt. An bestimmten Punkten entlang der beiden Flüsse standen Anfangsbuchstaben geschrieben. Die Schüler sollten die Dörfer und Städte benennen. Die Lehrerin zeigte auf einen Ort an der Mosel, der mit dem Buchstaben L begann und offenkundig für Lehmen stand. Ludmilla wurde aufgerufen, mit weit aufgerissenen Augen schaute sie sich fragend um. Sie trug eine Hilflosigkeit zur Schau, die sich augenscheinlich in Panik verwandelte. Franca, die hinter ihr saß, ritt der Teufel. Sie beugte sich vor und flüsterte: ›Leipzig!‹ Dankbar schnappte Ludmilla diese vermeintliche Hilfe auf und wiederholte laut und deutlich: ›Leipzig.‹
    In der Klasse brach ein unsägliches Gelächter aus, selbst die Lehrerin konnte sich ein Lächeln nur mühsam verkneifen. »Wie kommst du denn auf Leipzig, Ludmilla? Das liegt ganz weit weg von hier, in einem anderen Deutschland.«
    Ludmilla hatte sich daraufhin zu Franca umgedreht. Der Blick, mit dem sie sie angesehen hatte, war ihr durch Mark und Bein gegangen. Er hatte sich ganz tief in ihr Inneres eingebrannt und war weggesperrt worden.
    Franca fühlte, wie eine heiße Welle in ihr aufstieg. Sie traute sich nicht, nach weiteren derartigen Episoden zu schürfen, Gemeinheiten, die auf billigem Spott basierten und für die sie sich schämte. Sie war sich sicher, da gab es einiges Unschöne, das mit dem Namen Ludmilla verbunden war.
    Ob Ludmilla sich wirklich nicht daran erinnerte? Aber wäre sie ihr heute sonst so offen und freundlich begegnet? Milla hatte ausschließlich von netten Erlebnissen berichtet. An die sich Franca wiederum nicht so recht erinnern konnte.
    Das Telefon klingelte. Franca sah auf die Uhr. Punkt 9. Ihre zuverlässige Tochter!
    »Na, alles in Ordnung?«, fragte sie.
    »Ja, sicher«, antwortete eine Stimme, die nicht die von Georgina war. »Ich wollte dir nur sagen, wie sehr ich mich über unsere Begegnung gefreut habe. Ich meine, es wäre sehr schön, wenn wir uns bald wiedertreffen könnten«, sagte Ludmilla. »Wo wir uns doch so viel zu erzählen haben.«
    »Ach, du bist’s«, war Francas spontane Reaktion. »Ich hatte meine Tochter erwartet.«
    Schweigen.
    »Ja. Das sollten wir unbedingt tun«, beeilte sich Franca zu sagen.
    »Wie wär’s mit morgen Abend?«
    Franca spürte ein leises Unbehagen. Sie hatten sich doch erst heute gesehen. Und das, was da auf sie eingestürmt war, musste erst einmal verdaut werden. »Morgen hab ich schon was vor«, log sie. »Aber nächste Woche können wir uns gern treffen«, setzte sie versöhnlich hinzu.
    »Sonntag?«
    »Den wollte ich gern für meine Tochter freihalten.«
    »Sagtest du nicht, sie ist 16?« Ludmilla lachte. »16-jährige Töchter verbringen für gewöhnlich die Sonntage mit ihresgleichen. Oder ist das bei euch anders?«
    Franca dachte einen Moment nach. Ludmilla hatte natürlich recht und so ließ sie sich auf das Angebot ein.
    »Gut, halten wir also Sonntag fest. Kommst du zu mir? Ich koch uns was Leckeres.«
    Das hörte sich verführerisch an. »Gern. Also bis Sonntag.« Franca drückte auf den Ausknopf. Lehnte sich zurück und hing eine Weile ihren Gedanken nach. Plötzlich fiel ihr siedend heiß Georgina ein. Sie hatte sicher vergeblich versucht, ihre Mutter zu erreichen, während sie mit Ludmilla gesprochen hatte.
    Sie wählte die Handynummer ihrer Tochter, die sich nach dem zweiten Klingelton meldete. »Gina, ich hab gerade telefoniert. Tut mir leid. Wie geht’s dir?«, fragte Franca atemlos.
    Georgina lachte. »Wir sitzen im ›Extrablatt‹ und unterhalten uns prächtig. Man merkt, dass Maik länger in Seattle gelebt hat, er weiß, wo

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