Engelskraut
die Augen.
»Sie sind nicht die einzige nahe Verwandte?«
»Ich habe noch einen Bruder, aber der wohnt weit weg. Der hat sich ebenfalls aus dem Staub gemacht wie meine Mutter, und mir alles überlassen. Zur Beerdigung wird er wohl kommen und das war’s dann.«
»Es tut uns alles sehr leid, Frau Danziger, aber wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen«, sagte Hinterhuber.
Sie nickte. »Ich weiß. Sie denken, ich hätte meinen Vater vergiftet. Aber das ist völliger Unsinn.«
Franca tauschte einen Blick mit Hinterhuber.
Clarissa hielt sich dezent im Hintergrund. Franca bemerkte wohlwollend, dass sich die tendenziell mitteilsame Praktikantin zu benehmen wusste.
»Ich sag Ihnen ganz ehrlich: Ich wollte, dass alles ein Ende nimmt. Weil es nicht mehr auszuhalten war.« Die Frau sah Franca mitleidheischend an. »Können Sie sich vorstellen, wie es ist, wenn man Tag für Tag mit ansehen muss, wie ein Mensch sich quält? Ich gebe zu, dass man da schon mal drüber nachdenkt, ob man dessen Leiden nicht abkürzen kann. Aber denken ist ja nicht verboten, oder?«
Diese Gedanken hatte sie auch dem Arzt mitgeteilt. Der wiederum hatte sie der Polizei nicht vorenthalten.
»Und zu erben gibt’s hier auch nix«, fuhr Frau Danziger mit fester Stimme fort. »Ich muss zusehen, wie ich die Kosten für die Beerdigung zusammenbringe. Wissen Sie, wie teuer heutzutage ein Begräbnis ist?«
Franca und Hinterhuber taten ihre Pflicht und nahmen die notwendigen Untersuchungen vor. Medikamentenschachteln lagen keine herum. In der Küche stand eine Tasse mit grünlichen Anhaftungen, aus der der Vater offensichtlich getrunken hatte. Franca roch daran und beschloss, die Tasse einzutüten und mitzunehmen.
»Die Frau hat mir voll leidgetan«, sagte Clarissa, als sie hintereinander die Treppen hinunterstiegen – das Warten auf den Fahrstuhl hatte zu lange gedauert. »Ich meine, es ist doch schlimm, wenn der Vater stirbt und man sich so lange gekümmert hat, und dann kommen solche Verdächtigungen. Ich finde das nicht in Ordnung.«
»Wir müssen uns mit vielem herumschlagen, was nicht in Ordnung ist«, entgegnete Franca. »Menschen sind nun mal undurchschaubar. Das erleben wir jeden Tag. Sie versuchen, uns ein geschöntes Bild von sich zu präsentieren. Da müssen wir auf der Hut sein. Sie kann uns genauso gut was vorgeheuchelt haben.«
»In diesem Fall hätte sie sich doch nicht so dämlich angestellt und dem Arzt ihre Gedanken mitgeteilt. So was macht nur ein wirklich verzweifelter Mensch.«
»Genau«, bestätigte Franca. »Es sind ja nicht nur die Bösen, die töten, sondern oft auch verzweifelte Menschen, die nicht mehr weiterwissen. Wir tun nichts anderes, als die Sachlage zu prüfen.«
»Wollen wir eine Wette abschließen?«, fragte Clarissa listig. »Ich meine, es geht ja hierbei auch um Menschenkenntnis, oder?«, schob sie schnell hinterher, als sie Francas strafendem Blick begegnete.
Hinterhuber hatte zu all dem nichts gesagt. Er behielt seine Gedanken für sich.
10
Hans Kleinkauf streckte sich auf seinem Sofa aus. Während der Eröffnungsveranstaltung der BUGA hatte er Ellie einmal mehr über die Maßen vermisst, als er allein zwischen all den Menschen, von denen er niemanden kannte, umherlief. Jeder schien einen Partner bei sich zu haben, ein Familienmitglied, Kinder, Enkel. Marie und Charlotte hatte er zuvor angeboten, übers Wochenende nach Koblenz zu kommen, doch beide Töchter hatten wenig Interesse geäußert und irgendetwas Unaufschiebbares vorgeschützt. Das tat ihm weh. Auch weil sie diesem Ereignis nicht das Interesse entgegenbrachten, wie er es sich gewünscht hätte. Aber sie waren eigenständige Persönlichkeiten und offenbar mit einem anderen Maß als ihre Eltern ausgestattet, die Schönheiten zu erkennen, die die Umwelt bot.
Er hatte immer versucht, ihnen den großen Zusammenhang zu einem übergeordneten Ganzen nahezubringen, der sich im Kleinen im Garten und in der Natur entfaltete. Das Wechselspiel von Wachstum, Werden und Vergehen konnte nirgends besser beobachtet werden als im Garten. Ebenso die Notwendigkeit der Pflege, des Gießens, Beschneidens und Düngens. Gerade dort, wo es um Lebenserscheinungen und jahreszeitlich bedingte Veränderungen ging, wie das im Garten der Fall war, wurde auch immer die Frage nach dem Sinn des Lebens berührt.
Natur bedeutete so vieles, auch ein Nebeneinander von vermeintlich Unvereinbarem. Da waren einmal natürlich gewachsene Blumenwiesen, alte Wälder, unverbaute
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