Engelslieder
sorgfältig gekämmt. Die Uniform war Pflicht. Alle männlichen Angestellten sahen aus, als kämen sie direkt vom Tennisplatz in Wimbledon. Die Frauen kleideten sich ähnlich, sie trugen weiße Stricktops und Shorts, auf deren Taschen in schwarzer Schrift “Pike’s Gym” gestickt war. Die Klettertrainer bildeten die Ausnahme. Um die Wand zu bezwingen, brauchten sie elastischere Kleidung.
“Hör mal, Mike, ich habe ein Problem und hoffe, du kannst mir helfen.”
“Schieß los.”
Sie zeigte auf das Lesegerät. “Dieses Ding erfasst doch jeden, der hinein- und hinausgeht, oder?”
“Stimmt.”
“Ich nehme an, es übermittelt die Informationen an einen Computer. Kann man sich dort eine bestimmte Person herauspicken und verfolgen, wann sie hier in der Regel eincheckt?”
“Klar.”
“Ich muss die Trainingstage und -zeiten von Ben McKenzie wissen.”
“Wooow! Moment mal, Autumn. Ben ist unser Boss. Ich glaube nicht, dass er es mag, wenn man hinter ihm herschnüffelt.”
“Es ist keine große Sache”, log sie. Schon wieder. “Ich möchte nur mit ihm reden. Es geht um seine Tochter.”
Nicht um die lebendige, sondern um die, die er für tot hält.
“Dann geh doch einfach hoch in sein Büro.”
“Es ist eher privat. Ich will das Ganze nicht so aufbauschen. Außerdem habe ich ihn schon öfter hier gesehen. Er wird denken, dass wir uns zufällig begegnen.”
“Ich weiß nicht …”
“Komm schon, Mike. Wie viele Gratis-Kletterstunden habe ich dir letzten Monat gegeben?”
“Schon, aber … Und du bist auch bestimmt keine Stalkerin oder so was?”
Sie warf ihm einen Das-ist-doch-wohl-hoffentlich-nicht-dein-Ernst-Blick zu. Jeder wusste, dass sie nur selten mit Männern ausging, sie gewöhnlich sogar mied. Es ging sogar das Gerücht um, sie sei lesbisch – was ihr definitiv neu wäre.
“Schon gut, schon gut. Warte kurz. Ich drucke dir die Daten der letzten zwei Monate aus, dann kannst du sie auswerten. Erwähn nur nicht meinen Namen, okay?”
“Versprochen.”
Bens Trainingsgewohnheiten waren schnell analysiert. Wochentags trainierte er täglich, am Wochenende nie. Normalerweise kam er sogar früher als sie. Natürlich gab es auch ein paar Lücken, an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen war er nicht gekommen. Vermutlich war er während dieser Zeiten auf Geschäftsreise gewesen. Seit einigen Wochen trainierte er auch dienstag- und donnerstagabends.
Autumn tippte auf das Blatt. “Danke, Mike. Das ist spitze.” Sie grinste. “Ich werde das belastende Beweismaterial sofort vernichten, wenn ich es nicht mehr brauche.”
Mike sah erleichtert aus. Er war wirklich ein netter Kerl und sie konnte es ihm nicht verübeln, dass er seinen Job nicht riskieren wollte, und hatte nicht die Absicht, ihn zu verraten. Sie studierte den Ausdruck genau, um den besten Zeitpunkt für den nächsten Kontakt auszuloten.
Sie dachte daran, wie zornig McKenzie in seinem Büro gewesen war, und beschloss, ihn lieber nicht in den Räumlichkeiten des Fitnessclubs anzusprechen, wo viele Leute zugegen wären. Stattdessen würde sie ihn draußen abpassen, in der Hoffnung, unter vier Augen mit ihm reden zu können.
Am Dienstagabend um Viertel vor acht Uhr setzte sich Autumn in ein kleines Café an der Pike Street, von wo aus sie einen guten Blick auf das McKenzie-Gebäude hatte. Laut ihren Aufzeichnungen war Ben jemand, der einen strengen Zeitplan befolgte. Um neunzehn Uhr ging er – vermutlich direkt aus seinem Büro im fünften Stock – an die Geräte, und obwohl sie nicht wusste, wie lange er blieb, war sie sich ziemlich sicher, dass er mindestens eine Stunde trainierte.
Es wurde acht, doch Ben ließ sich nicht blicken. Erst um halb neun trat er aus der Tür. Er trug eine lange Hose und ein am Hals aufgeknöpftes Hemd. Die Ärmel hatte er aufgekrempelt, Mantel und Krawatte über den Arm gelegt.
Autumn stellte die weiße Porzellankaffeetasse auf den Unterteller und eilte zur Tür. Als sie Ben an der Ecke einholte, stand sie einige Augenblicke neben ihm, bis er sie bemerkte.
“Mr. McKenzie?”
Er drehte den Kopf und biss fest die Zähne aufeinander. “Sie!”
“Bitte werden Sie nicht wütend. Ich muss mit Ihnen reden. Ich weiß, dass Sie nicht mit mir sprechen wollen. Ich weiß, wie schmerzhaft es für Sie sein muss, an Molly zu denken, aber Sie müssen mich anhören.”
Mehrere Leute sammelten sich um sie herum und warteten, dass die Ampel auf Grün sprang. Ben sah sich kurz um, packte dann Autumn am Arm und
Weitere Kostenlose Bücher