Engelspakt: Thriller (German Edition)
nachdenklich an, als träfe er eine Entscheidung, die zugunsten des jüngeren Mannes ausfiel. »Ich habe Ihnen diesen Ort gezeigt, und noch können Sie umkehren und so weiterleben, als hätten Sie diesen Raum niemals betreten. Sollten Sie sich jedoch für die Arbeit in diesem Archiv entscheiden, dann gibt es für Sie kein Zurück. Dann gehören Sie zu uns.«
»Zu uns?«
»Zu den Eingeweihten des Schwarzen Archivs. Mehr kann ich Ihnen zu diesem Zeitpunkt nicht darüber sagen. Denken Sie also noch einmal in Ruhe darüber nach, bevor Sie Ihre Entscheidung fällen, denn, wenn Sie Ja sagen, dann gilt dieses Ja bis ans Ende Ihrer Tage. Was das bedeutet, werden Sie, wie bei so vielen Entscheidungen im Leben, allerdings erst hinterher erfahren.«
Die Strecke zurück durch das Labyrinth des geheimen Archivs erschien Rinaldo so lang, als wäre sie die Allee der gesamten Geschichte in den alten Dokumenten und den schweren, klobigen Büchern, die in Reih und Glied ihren Weg säumten. Ciban sprach kein weiteres Wort, und so brachte auch Rinaldo keinen Ton hervor. Schweigend kehrten sie zu den oberen Archivräumen und dann zum Licht der Welt zurück.
Seit diesem Tag hatte Rinaldo Dutzende der unheimlichen schwarzen Ordner mit ihren X-Akten studiert, und jeder einzelne hatte sein wohlgeordnetes Bild von der Welt grundlegend erschüttert und seine Kraft und sein Denken auf die Probe gestellt. Der Druck in seinem Magen ließ nur selten nach, erinnerte ihn regelmäßig an den Ausspruch des großen Philosophen und Mystikers Ralph Waldo Emerson: »Du kannst wählen zwischen der Wahrheit und der Ruhe, aber beides zugleich kannst du nicht haben!«
Seit diesem Tag gab es für Rinaldo keine Gewissheit mehr über die Ordnung der Welt, keine eindeutige Wahrheit. Alles, was er nun hatte, waren diese erschreckenden Dokumente, verpackt in Dutzende schwarze Ordner. Und Hunderte von diesen X-Akten des Vatikans ruhten noch ungelesen in den massiven Stahlschränken des Schwarzen Archivs.
Da war die Rede von der »Wiedererweckung der Toten«, einem inoffiziellen Forschungsprogramm in den USA. Da war die Rede von geheimen Institutionen und Orden, die seit Jahrhunderten verdeckt überlebt hatten, und von deren Mitgliederlisten von Angehörigen des Klerus, die unter dem Verdacht standen, dem einen oder anderen Bund anzugehören. Da gab es belastende Zeitungsartikel, Kongressberichte und Einzelmitteilungen.
Zu Beginn hatte Rinaldo noch gedacht, dass das Ganze reichlich paranoid klang, wie die obsessive Ausgeburt eines überspannten Gehirns. Aber dann hatte er in einigen Fällen zu ermitteln begonnen, und das, was ihm eben noch paranoid erschienen war, hatte plötzlich Gestalt angenommen, war greifbar geworden, existierte mit einem Male ebenso wie die Gewölbe des Petersdoms oder die Geschäftsordnung des letzten Konklaves.
Doch so groß das Grauen auch war, ihn faszinierte diese Arbeit. Die schwarzen Ordner hatten ihre ganz eigene magische Anziehungskraft. Irgendwie überwog die Neugierde am Ende den Schrecken, sobald er eine dieser Akten aufschlug und auf Fährtensuche ging …
Das schrille Klingeln von Bischof Tardinis altem Telefon ließ Rinaldo zusammenfahren, riss ihn aus der Welt des Schwarzen Archivs und holte ihn zurück in die Gegenwart. Keine zwei Minuten waren seit seinem letzten Blick auf die Uhr vergangen, aber es erschien ihm, als säße er schon seit Stunden hier.
»Sie können jetzt hineingehen, Monsignore«, erklärte der weißhaarige Sekretär mit einem leisen Schmunzeln.
Rinaldo erhob sich und blickte auf die Tür zu Cibans Büro, als handelte es sich dabei um einen der blankpolierten Stahlschränke aus dem vatikanischen Untergrund. Welche X-Akte wartete wohl diesmal auf ihn?
8.
»Was siehst du?«
Dr. Zanolla saß am Terminal auf der anderen Seite des Spiegelglases. Seine Stimme klang freundlich, doch David konnte den fordernden, ungeduldigen Blick des Wissenschaftlers beinahe spüren.
Vor David auf dem Tisch lag wieder das Foto mit Papst Leo. Inzwischen war ihm der alte Mann vertraut. Es bereitete ihm keine Mühe mehr, die Welt Leos zu betreten und an dessen Emotionen und Überlegungen teilzuhaben, auch wenn er die Gefühls- und Gedankenwelt des Papstes nicht wirklich begriff. David war nur ein Kind, wenn auch ein über alle Maßen begabtes. Der Greis hingegen hatte ein langes, ereignis- und erfahrungsreiches Leben hinter sich. David lernte zwar unglaublich schnell, aber er konnte unmöglich den Erfahrungsschatz und die
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