Engelspakt: Thriller (German Edition)
1896 aus England in einer versiegelten Schatulle hierhergelangt, Eure Heiligkeit.«
»Und bisher hat es nie ein Papst gelesen, einschließlich Pius?«
Der Kardinal schüttelte den Kopf. »Nein. Als Papst Pius darauf angesprochen wurde, versah er das Dokument mit dem Vermerk ›Geheimnis des Heiligen Offiziums‹ und verwahrte es im Tresor seines Arbeitszimmers.«
»Warum hat er das Ihrer Meinung nach getan?«
»Weil er die Wahrheit fürchtete, vielleicht. Oder weil er fürchtete, während der Schlacht zwischen Gut und Böse als Oberhaupt der Christenheit versagt zu haben. Er hatte viele Träume – und zumeist keine guten, Heiligkeit.«
Leo erinnerte sich an das schlichte, abgelegene Grab in der Krypta des Petersdoms. Pius hatte sich diese Schlichtheit und Abgelegenheit ausdrücklich gewünscht. Kaum einer, der auf sein Pontifikat zurücksah, wusste um die verzweifelte Doppelrolle, die der Papst während der faschistischen Ära gespielt hatte.
»Laut den Aufzeichnungen war Papst Johannes der Einzige, der sich das Geheimnis angesehen hat«, fügte der Kardinal hinzu.
Johannes! Der alte Haudegen!, schoss es Leo durch den Sinn. Ob er das Geheimnis hatte deuten können?
Der Kardinal setzte an, die schwere Lade zu öffnen.
»Warten Sie, Marc.«
Sofort zog der Kardinal die Hand zurück. »Soll ich das Fragment in Eure Privaträume bringen lassen?«
Leo schüttelte den mächtigen Kopf mit den sanften Gesichtszügen. »Was hier und jetzt geschieht, muss unter uns bleiben.«
Der Kardinal nickte. »Wie Eure Heiligkeit wünscht.«
»Danke … Und jetzt bitte die Lade.«
Ehrfürchtig öffnete der Kardinal die Lade. Es trat kein Licht heraus, kein mystischer Glanz. Das Fragment, das der Kardinal dem Papst schließlich überreichte, wirkte so unscheinbar, so banal, als handelte es sich um das dicke, zerfledderte Schulheft eines Kindes.
»Machen wir uns an die Arbeit«, sagte Leo. Er setzte sich mit dem Kardinal an den großen, hohen Tisch und schlug die ersten Seiten auf.
David trat neben die beiden Männer und warf mit ihnen einen Blick auf das Fragment. Über die Gedanken Leos konnte er die altertümliche Schrift lesen. Von einer uralten, geheimen Bruderschaft war darin die Rede und von der Wiederkunft Jesu Christi und davon, dass die katholische Kirche das einundzwanzigste Jahrhundert nicht überstehen würde.
Aber das Unglaublichste für David kam zum Schluss. Die letzte Seite zeigte eine schon leicht verblassende Skizze, das Gesicht eines Jungen.
Davids Spiegelbild.
9.
Kardinal Cibans Arbeitszimmer war eine Welt für sich. Nirgends sonst im Vatikan hatte Rinaldo Geschichte und Moderne als Stilmix so geschmackvoll vereint gesehen. Auf der einen Seite des Büros befand sich eine hochmoderne Medienwand, auf der anderen Seite standen robuste, antik anmutende Bücherregale, die sich bogen unter den alten Büchern und Folianten aus dem Archiv. Rinaldo hatte bemerkt, dass sich der Inhalt der Regale stetig wandelte, als handelte es sich um Cibans aktuelle Handbibliothek. Sein Blick streifte eine der Skulpturen, die ihn jedes Mal aufs Neue irritierten. Mit einem Schwert bewaffnet, blickte die Engelsfigur von einem der Regale in Deckenhöhe wie ein Wächter auf ihn herab.
Auf Cibans schwerem Schreibtisch lagen ein hochmodernes, aufgeklapptes MacBook und einer der schwarzen Ordner aus dem Archiv. Rinaldo hatte Ciban noch niemals geistig abwesend erlebt, doch in diesem Moment schien der Präfekt meilenweit vom Hier und Jetzt entfernt zu sein.
Rinaldo räusperte sich, damit der Kardinal ihn überhaupt bemerkte. Aber erst beim zweiten Räuspern drehte Ciban sich zu ihm um und bedeutete ihm, auf einem der beiden Renaissancestühle vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen.
»Verzeihen Sie, dass ich Sie habe warten lassen, Monsignore, aber ich erhielt soeben eine Nachricht, der ich sofort nachgehen musste, bevor wir uns darüber unterhalten.«
Mit einer eleganten Bewegung drehte der Präfekt den Laptop herum, damit Rinaldo einen Blick auf den Bildschirm werfen konnte. Während er die Biografie eines gewissen Alan Scrimgeour studierte, schenkte der Kardinal ihm und sich Wasser ein.
»Ich nehme an, Sie haben noch nie etwas von Alan Scrimgeour gehört?«
»Das stimmt, Eminenz.« Rinaldo nahm das Glas Wasser nach der langen Wartezeit dankbar an und trank einen kräftigen Schluck. Abgesehen von den Zeilen, die er gerade gelesen hatte, hatte er keinen Schimmer, wer dieser Mann überhaupt war. »Was macht den Professor für die
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