Engelsrache: Thriller
eingesperrt, die sie nur verlassen durften, wenn sie zweimal die Woche zum Duschen eskortiert wurden. Falls sie die Zellen aus irgendeinem Grund doch einmal verlassen durften, dann nur mit Fußfesseln und Handschellen, die vor dem Bauch außerdem noch an einem Kettengürtel befestigt waren. Um sich untereinander zu verständigen, mussten sie durch die Schlitze in den Zellentüren brüllen, durch die ihnen das Essen hereingereicht wurde.
Und sie brüllten in der Tat.
Als ich schließlich durch die vierte Sicherheitsschleuse in den Zellentrakt trat, empfing mich ein ohrenbetäubender Lärm. Ein Anzugträger war für die Insassen des Hoch-sicherheitstrakts automatisch entweder Polizist, Anwalt oder ein Vertreter der Gefängnisleitung. Alle drei Kategorien waren den Häftlingen gleichermaßen verhasst. Als ich endlich den zehn Meter langen Weg zu dem Büro hinter mir hatte, in dem mein Gespräch stattfinden sollte, hatte ich so ziemlich alle nur denkbaren Flüche und Verwünschungen gehört.
Die Gefängniszellen waren auf zwei Etagen um einen ovalen Innenhof herum angeordnet. Der Vollzugsbeamte, der unten an der Rezeption saß, konnte von seinem Platz aus sämtliche zwanzig Zellen des Trakts gleichzeitig überblicken, und auch die Gefangenen konnten ihn durch winzige Scheiben in den Zellentüren sehen. Der Aufseher, der mich begleitete, ein kräftiger junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, führte mich in das Besprechungszimmer.
»Ich hole ihn gleich«, sagte er. »Bin sofort wieder da.«
Er wollte schon gehen, blieb aber noch mal stehen und drehte sich nach mir um.
»Sie tun mir echt leid«, sagte er.
»Danke«, sagte ich, »das geht mir selbst genauso.«
Maynard Bush war vier Stunden nach seiner Flucht aus dem Gefängnis von Johnson County wieder eingefangen worden. Die Polizei hatte Bonnie Tate erschossen in ihrem Auto auf dem Parkplatz des Roane-Valley-Golfclubs aufgefunden. Offenbar hatte Maynard sie auf der Stelle abgeknallt, nachdem sie ihn auf dem Parkplatz von seinen Handschellen befreit hatte.
Anschließend war Maynard direkt zu seiner Mutter gefahren, die ihn schon vor die Tür gesetzt hatte, als er gerade vierzehn Jahre alt gewesen war. Als Maynard draußen vor dem Haus aufgetaucht war, hatte die Mutter augenblicklich die Polizei benachrichtigt. Kurz darauf waren einige Polizisten mit gezogener Waffe am Ort des Geschehens eingetroffen und hatten in dem Haus mehrere Schüsse gehört. Maynard reagierte nicht auf Zuruf. Eine Stunde später warf die SEK-Einheit der Polizei einige Behälter Tränengas durch die Fenster und stürmte das Haus. Die Beamten trafen Maynard am Küchentisch an, wo er vor einem Teller mit einem halb gegessenen Sandwich saß und sich die brennenden Augen zuhielt. Die von Kugeln durchsiebte Leiche seiner Mutter lag kaum zwei Meter von ihm entfernt am Boden. Auf die Frage, warum er sich nicht verteidigt hatte, entgegnete Maynard, dass er die gesamte Munition für seine Mama verbraucht hatte.
Ich hatte schon während der Vorbereitung des Verfahrens gegen Maynard im vergangenen Mai mit Bernice Bush, seiner Mutter, gesprochen. Die Frau hatte Maynard allein aufgezogen, nachdem sein Vater im Streit um den genauen Verlauf der Grundstücksgrenze einen Nachbarn erschossen hatte und daraufhin ins Gefängnis gewandert war. Besonders absurd an der Geschichte war, dass Maynards Vater nur Mieter gewesen war, dass ihm das Grundstück also gar nicht gehört hatte.
Bernice war eine schmächtige, zart gebaute Frau. Sie war zweiundfünfzig Jahre alt und wohnte in Carter County unweit des Highway 67 in einer kleinen Hütte. Ihr Haus war genauso heruntergekommen wie sie selbst. In den Räumen roch es penetrant nach Hundescheiße und Zigarettenrauch. Überall im Haus und in dem winzigen Vorgarten standen Plastiktüten mit leeren Bierdosen herum.
Bernice lebte von Sozialhilfe und Essensmarken und nahm die kostenlose medizinische Betreuung in Anspruch, die der Staat Tennessee seinen mittellosen Bürgern gewährte. Ich wusste von ihr, dass Maynard bereits mit vierzehn Jahren drogensüchtig gewesen war. Angeblich hatte er ihr damals schon ständig ihre Psychopharmaka gestohlen und sich auf der Straße mit harten Drogen eingedeckt. Dann hatte er die Schule abgebrochen und sich – wie sie sagte – bloß noch mit Asozialen herumgetrieben. Schwierig, sich ein asozialeres Milieu vorzustellen als jenes, in dem sie selbst zu leben schien.
Angeblich hatte Bernice damals einen alten Hund gehabt. Als sie
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