Engpass
seltsamen Gefühl. Wartet darauf, dass es abebbt. Schließlich, als das Ärgste überstanden scheint, torkelt Anna Richtung Schultor. Lautes Klingeln hat schon vor Minuten das Pausenende angekündigt.
»Hey!«, hört sie hinter sich eine Stimme. Noch immer lachend, dreht sie sich um. Vor ihr steht Mister Pickelgesicht aus der Videothek.
»Was machst du denn hier?«, meint Anna abschätzig. Nicht, dass es sie tatsächlich interessieren würde, aber unhöflich will sie auch nicht sein. Nicht, nachdem Beate ihr vorgeführt hat, was Freundschaft nicht sein sollte.
Der Junge aus der Videothek deutet mit dem Kopf Richtung Schulgebäude. »Wir sollten reingehen, wenn wir keinen Ärger wollen.«
»Na ja, vielleicht hast du recht.« Dann meint sie: »Wie heißt du eigentlich?«
»Anton. Aber sag lieber Dino.«
»Dino? Wie Dinosaurier? Schräg. Echt schräg. Hätt ich dir übrigens gar nicht zugetraut.«
»Ach so«, meint Dino verunsichert. »Wieso eigentlich?«
Anna überhört seine Frage und fängt mit etwas anderem an. »Lass uns ein Abkommen schließen, Dino. Du sprichst weiterhin Deutsch mit mir, ich meine, so, dass ich dich verstehen kann – das scheinst du ja ohnehin die letzte Zeit geübt zu haben – und dann geht das mit deinem Namen klar. Dino!« Anna wiederholt den Namen und schüttelt dabei den Kopf. Sanft wie ein Lamm und völlig unerwartet lächelt sie. »Warum zur Abwechslung nicht mal normal drauf sein?«, flüstert sie dann und legt den Zeigefinger an die Lippen. Dino starrt sie an, als sei sie ein Weltwunder. Einträchtig gehen sie auf den Eingang der Schule zu.
»Das mit dem Abkommen geht klar«, meint er nach einer ganzen Weile, als sie schon das Schulgebäude betreten haben.
Wenn man nur dieses Bild nehmen würde, müsste man glauben, sie und dieser Junge seien Freunde. Anna ist mit einem Schlag klar geworden, dass Freundschaft nicht dadurch entsteht, dass man sie lautstark verkündet. Freundschaft ist ein Geschenk, das man erhält, wenn man jemandem alles gibt. Hat sie nicht die ganze Zeit sich selbst verraten? Der wichtigste, beste Freund, den sie je haben könnte.
11. Kapitel
Im Büro, in Traunstein, hängt Elsa sich ans Telefon. Als Erstes versucht sie herauszufinden, wer damals Silke Maihausers Gynäkologe war. Das Unterfangen – an sich eine Kleinigkeit – gestaltet sich unerwartet schwierig. Die Praxis von Silkes Frauenarzt gibt es nicht mehr, erfährt sie. Sein Nachfolger, ein Arzt in mittleren Jahren, erzählt ihr, überaus freundlich, dass Nikolaus Angermaier, von dem er die Praxis übernommen hatte, sofort nach dem Verkauf in den Ruhestand getreten und nach Gran Canaria ausgewandert sei. »Er hatte Probleme mit der Haut. Psoriasis. Der quälende Juckreiz und die unschönen roten Flechten haben ihn ganz schön zermürbt.« Entschlossen, dem ein Ende zu setzen, habe er das Meer mit seiner beruhigenden salzhaltigen Luft angesteuert. »Unser Klima hier hat ihm nicht sonderlich behagt. Und Kortisonsalben schmieren ist auf Dauer auch nicht das Wahre.«
Elsa wundert sich, wie genau sie alles erläutert bekommt. Um sich weitere Einzelheiten zu ersparen, hakt sie nach, will wissen, ob es alte Karteikarten, Unterlagen oder Aufzeichnungen irgendwelcher Art gebe. Als Nachfolger übernehme man doch sicher auch den alten Patientenstamm, zumindest teilweise.
»Stimmt«, bestätigt ihr Gesprächspartner. »Nur, eine Patientin namens Silke Maihauser, die habe ich leider nicht übernommen. Der Name ist mir nie untergekommen. Daran erinnere ich mich, in Anbetracht der Meldungen aus der Tagespresse.« Und Aufzeichnungen aus jener Zeit könne er ihr auch nicht zur Verfügung stellen. So gern er würde. Er habe damals gründlich ausgemistet, lediglich das Nötigste aufbewahrt. Alter Plunder belaste doch nur. Nicht nur privat, auch was ein Unternehmen anbelange, und das führe er als Arzt nun mal.
Elsa bläst die Luft aus der Lunge und tippt nervös mit dem Kugelschreiber auf die Schreibtischunterlage. »Vielen Dank«, sagt sie enttäuscht und legt auf.
Als Nächstes forscht sie nach Angermaiers spanischer Adresse. Das ist im Handumdrehen erledigt. Die Nummer auf ein Papier kritzelnd, stellt sie die nächste Verbindung her.
Spanien, sinniert sie vor sich hin, während es bei Angermaiers läutet. Das wäre jetzt was für sie. Im September konnte man dort noch herrlich baden. Warme Sonnenstrahlen genießen. Relaxen. Ein Buch lesen. Gut essen gehen. Farben aufsaugen. Dolce Vita. Elsa
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