Engpass
Erklärung, weshalb Elsa sie pitschnass vorgefunden hatte. In einem erbärmlichen Zustand. Einem, der viele Fragen offen lässt. Aber für eine Tochter, die herummotzte wie immer, für die bestand Hoffnung.
Elsa ist eingenickt, als das Schlagen der Kirchturmuhr ihren Körper durchdringt wie eine tatsächliche Berührung. Hart und unerwartet. Sie schreckt hoch und schaut sich um. Einige kurze Atemzüge lang muss sie sich orientieren. Dann weiß sie wieder, wo sie ist, und auch ihr Gehirn hat seine Arbeit wieder vollständig aufgenommen. Die beiden Morde, der Irrsinn ihrer privaten Geschichte mit Hartmut, ihr Verdacht bezüglich Karl Degenwald. Alles fällt ihr wieder ein. Einen Moment scheint Elsa keine Luft mehr zum Atmen zu finden. Alles um sie herum erdrückend, bleischwer. Du musst dieses Wirrwarr um dich lichten. Schnellstens sondieren. Zumindest einen Teil davon. Raum im Hirn schaffen. Sonst säufst du echt elend ab, schießt es ihr durch den Kopf.
Wie aus der Zeit gehoben, sackt sie in sich zusammen. Spielt es eine Rolle, wann etwas passiert? Jetzt, heute oder morgen? Wie soll sie sich mit all den Gefühlen auskennen? Den eigenen und den fremden. Denen, die ihre Arbeit an sie herantragen. Die Sorge um Anna hat sie noch gar nicht in ihr Gehirn gehoben. Panik hilft nicht. Sie versucht, Ruhe zu bewahren.
Zuerst muss sie sich um die Arbeit kümmern. Die Ermittlungen ziehen sich hin. Erfolge lassen auf sich warten. Da muss sie den Hebel ansetzen. Nur, wie Karl Degenwald aus seinem Versteck locken? Indem sie ihn aufscheucht? Natürlich! Das ist der Schlüssel. Die Schonzeit ist vorbei. Sie wird ihn mit ihren Vermutungen konfrontieren. Ein unerwarteter Schlag ist immer noch besser als dieses gleichbleibende Dahindümpeln. Entschlossen steht Elsa auf. Sie hastet in den Flur, zieht sich ihre Jacke über und verlässt noch mal das Haus.
Ein kurzer Spaziergang ist nicht das Schlechteste. Sie geht zielsicher den Kirchackerweg hinauf. Die Straße ist vom Mond und den Straßenlaternen fast taghell.
Als sie vor seinem Haus ankommt, hinter dessen Fenstern kein Licht mehr brennt, fühlt sie sich erleichtert. Etwas anzugehen, ist besser als abzuwarten. Sie läutet zweimal hintereinander, ohne vorher auf die Uhr zu sehen. Wie spät es ist, dieser Gedanke existiert nicht in ihrem Gehirn. Sie will weiterkommen. Das ist alles, was sie beschäftigt. Oben springt Licht an. Dann ein weiteres, im Flur. Als Letztes öffnet sich die Tür. Elsa starrt in den Vorraum, den sie bereits gut genug kennt. Sie lächelt, obwohl ihre Mitteilungen nicht zum Lachen sein werden. Ohne eine Aufforderung zum Eintreten ist sie in Degenwalds Haus eingedrungen.
»Elsa? Was ist denn los? Ich hab schon geschlafen.« Degenwald ist offensichtlich nicht aufgefallen, dass er sie beim Vornamen nennt. Anstatt sich dessen gewahr zu sein, gähnt er verstohlen, wirkt dabei aber alles andere als schläfrig.
»Vielen Dank für die Blumen, falls ich später nicht mehr dazu komme.«
Elsa registriert die Aufmachung ihres Kollegen. Mit seiner dunkelblauen Jogginghose und dem engen weißen T-Shirt steht er vor ihr. Die Haare auf eine Art und Weise zerstrubbelt, für die ein Friseur in München wahrscheinlich eine horrende Summe verlangen würde. Ein Bild von einem Mann. Für sein Alter zumindest, schickt Elsa gedanklich hinterher. Sie zieht die Aufmerksamkeit ihres Blickes vom Äußeren Degenwalds ab, versucht, sich zu fassen.
»Gern geschehen. Aber jetzt möchte ich wissen, was Dramatisches passiert ist.«
»Ich muss mit Ihnen reden.«
»Unter vier Augen, nehme ich an?« Degenwald kämpft gegen ein Schmunzeln an.
Vielleicht ist er versucht, ihren Besuch – zu dieser Zeit – auf das Konto ›angenehme Fortsetzung des letzten Abends‹ zu verbuchen, fällt Elsa plötzlich ein.
»Unter vier Augen. Ganz recht.«
Sie folgt Degenwald hinauf ins Wohnzimmer. Er bringt mehrere Stehlampen zum Leuchten, gleichzeitig bietet er ihr einen Platz in der Sitzlandschaft an, die die riesige Glasfront abschottet.
»Danke, ich stehe lieber«, lehnt sie mit sachlicher Stimme ab. »So lange dauert es nicht. Ich bin beruflich hier.«
»Ah ja?« Degenwald schaut sie interessiert an.
»Es geht um den Mord an Silke Maihauser. Ich will nicht lange drum herumreden. Sie unterhielten damals eine Beziehung zu Frau Maihauser. Keine oberflächliche, um es auf den Punkt zu bringen. Sie standen in sicher schmerzhafter Konkurrenz zu Fred Maihauser, Götz Bramlitz und wem
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