Engpass
dieser Tat. Das spürt Elsa fast körperlich. Wie er denkt und empfindet, das hat sie zu interessieren. Erst wenn sie das begreift, wird sie dahinterkommen, was damals in ihm vorgegangen ist. Nicht an der Oberfläche, sondern tief in ihm drin.
»Abgesehen davon, musst du dieses verdammte Kissen finden oder was immer es war, mit dem Aurelia Bramlitz, diese wunderbare Frau, erstickt worden ist«, spricht Elsa leise für sich.
Sie fühlt, wie sich der Druck in ihr verstärkt, der sich jedes Mal einstellt, wenn sie einen Fall unbedingt und zügig lösen will. Egal, wie lange sie brauchen würde. Sie muss sich die Zeit nehmen, all das herauszuarbeiten. Dabei geht sie wie ein Bildhauer vor. Mit einer Vision fängt alles an. Einer Ahnung, wer als Täter infrage kommt. Wenn sie das manifestiert hat, kommt die grobe Arbeit dran. Ausschließen, den Dingen Struktur und Form geben. Handlungshintergründe freilegen. Eine schwierige, anstrengende Phase. Ist diese halbwegs zufriedenstellend erledigt, wird sie langsam feiner. Die Schlinge zieht sich immer mehr zusammen. Die Menschen, die Verdächtigen kommen in Bewegung. Begehen Fehler. Widersprechen und verraten sich. Das ist der Zeitpunkt, der Elsa alles abverlangt. Sie darf keine groben Fehler mehr zulassen. Sie muss ständig präsent sein. Hochkonzentriert. Motiviert. Ganz zum Schluss, wenn sie die Schlinge derart stark zusammenzieht, dass es einem geistigen Erstickungstod des Tatverdächtigen gleichkommt, lässt alles nach. Der Höhepunkt baut sich auf, genießt sich sozusagen selbst in seiner erhabenen Schönheit. Der Anblick der Gerechtigkeit, nennt Elsa es insgeheim für sich. Das ist ihr der liebste Moment. Was jetzt noch zu tun bleibt, ist lediglich, die feinen Straubreste wegzupusten, um das Werk freizulegen. Eine Mörderin oder ein Mörder stehen nackt vor ihr. Ihre Psyche liegt sozusagen auf dem Serviertablett bereit und spricht eine Geschichte. Die Geschichte, die ihr das Motiv und die Tat zum Geschenk macht. Danach großes Aufatmen. Jedes Mal wieder.
Elsa steht auf, öffnet die Verbindungstür, die die Pufferzone zwischen ihrem und Degenwalds Büro darstellt, und findet sich einige Sekunden später in dem verwaisten Zimmer ihres Kollegen wieder. Wo treibt dieser Mann sich eigentlich ständig herum? Keine Mitteilung an sie, wo und was er vorhat. Er ermittelt anscheinend im Alleingang. Dass Elsa genau dasselbe tut, ignoriert sie wohlweislich. Sie zückt ihr Handy und ruft ihn an. Doch sie erwischt nur die Mailbox.
»Dann eben nicht«, murmelt sie. Entschlossen, weiterzuarbeiten, auf keinen Fall lockerzulassen, geht sie zurück in ihr Büro und ruft stattdessen Anna an.
Als Elsa am Abend nach Hause kommt, entdeckt sie einen Blumenstrauß auf dem Esstisch. Weiße Lilien.
»Himmel, sind die elegant«, stellt sie überrascht fest.
»Sind die etwa von einem Verehrer?« Anna steht mit einem Mal hinter ihr. Ihre Stimme klingt streng. Geradezu forschend.
»Hast du die Blumen entgegengenommen?«
»Ne, ich hab bloß den Zettel von Fleurop gefunden. Mit dem bin ich dann rüber, zum Blumenladen. Sind ja nur ein paar Schritte. Da hat man sie mir dann gegeben. Willst du die Karte nicht lesen?« Anna ist neugierig, treibt ihre Mutter zum Handeln an.
Elsa öffnet den kleinen weißen Umschlag. ›Danke für den angenehmen Abend. Karl Degenwald.‹
»Mein Kollege«, stellt sie in Annas Richtung fest.
»Degi! Klar, mein Erinnerungsvermögen funktioniert. Was Ernstes?«
»Ja, wir arbeiten zusammen. Könnte nicht schlimmer sein.«
»Vermutlich nicht.« Jetzt grinst Anna.
Endlich weiß Elsa, was Degenwald mit Lydia Schranz zu besprechen hatte, als sie in dessen Haus gewesen war. Er hatte seiner Haushaltshilfe den Auftrag erteilt, Blumen für sie zu besorgen. Muss eine seltsame Situation für Lydia gewesen sein. Verflixt und zugenäht, hadert Elsa mit sich. Dass etwas Derartiges passieren konnte, hatte sie außer Acht gelassen. Ein verhängnisvoller Fehler. So etwas konnte sie sich nicht leisten, denn um ein Haar wäre sie aufgeflogen. Und das wär’s dann gewesen mit ihren Plänen bezüglich Karl Degenwald.
Elsa hat es sich auf der Couch im Wohnzimmer, mit Blick auf den Kachelofen, bequem gemacht. Den Rücken gegen die Garnitur gelehnt, sitzt sie da. Im Radio wird Klassik gespielt. Halbherzig lauscht sie den Klängen Ravels. Parallel dazu grübelt sie. Nach einem kurzen Gespräch mit Anna ist sie erleichtert. Kein Wort über das, was vorgefallen ist. Keine
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