Engpass
verstört innegehalten. Wäre damals ein sinnloser Mord verhindert worden, wenn Birgit Leiner nur einmal diese Zeilen gelesen hätte? Nein, zweifelt Elsa. Hören allein reichte nicht aus. Man muss erkennen.
Sie weiß nicht, ob sie den Rückweg schaffen wird. Bei der Dunkelheit. Zwar haben ihre Augen sich längst an die stetig zunehmende Finsternis angepasst, lassen sie nicht im Stich. Doch es ist nicht die Schwärze um sie herum, die sie ängstigt. Es ist die Außergewöhnlichkeit der Situation. Sie ist es schlichtweg nicht gewohnt, nachts in den Bergen herumzustreifen. Sie sehnt sich nach den Lichtern der Stadt. Und deren Geräuschen. Das kennt sie. Das würde ihr Sicherheit geben. Mit dem Schreien und Kreischen der Vögel, dem Raunzen fremder Tiere und dem monotonen Plätschern des Wassers kann sie nichts anfangen.
Vor lauter stummem Funktionieren ist alles Nachdenken in Vergessenheit geraten. Plötzlich fällt ihr ein, dass sie längst Degenwald hätte anrufen können. Hilfe anfordern. Der Gedanke ist ihr keinen Moment gekommen. Bis jetzt. Elsa bleibt stehen und beginnt, panisch in ihrem Rucksack zu wühlen. Hastig durchforstet sie jeden Winkel. Wühlt sich durch benutzte Taschentücher, Zwiebackbrösel, Schokoladenpapier, leere Wasserflaschen. Von ihrem Mobiltelefon keine Spur. Plötzlich scheint möglich, dass sie es in der Hütte liegen gelassen hat. Beim Auspacken der Obstvorräte am Nachmittag. Die Ungewissheit, es könne so gewesen sein, treibt ihr den Angstschweiß auf die Stirn. Das Ganze ist zu banal, um wahr zu sein.
Dann schaut sie hoch. Die dunkelgrauen Umrisse der Bergkette türmen sich vor ihr auf. Ohne Sicherheitsabstand. Aber auch das gibt ihr keine Antwort auf die Frage, was sie tun soll. Einen flüchtigen Moment lang misst sie sich mit ihrer eigenen Unsicherheit. Überprüft, ob sie dagegenhalten kann. Und gibt auf. Erschöpft sinkt sie ins Gras. Kontrolliert ihren Atem. Nur nicht zu hastig werden. Gleichmut zeigen. Gelassenheit hilft überleben. In jeder Situation. Auch in dieser.
Anna sitzt gelangweilt vorm Fernseher, lässt sich berieseln. Neben ihr eine aufgerissene Packung Chips. Obwohl ihre Augen auf den viereckigen Kasten vor sich gerichtet sind, weiß sie nicht, worum es zwischen dem Mann und der Frau auf dem Bildschirm geht. Sie gähnt, schnappt sich eine Handvoll Chips, während die Protagonisten miteinander um Wahrheit und Verständnis ringen, steckt sie sich in den Mund und blickt kauend auf ihr Handgelenk. Dann holt sie das Handy aus der Hosentasche und ruft ihre Mutter an. Nach dem Freizeichen legt Anna sich die ersten Worte zurecht. ›Wo bleibst du? Beeil dich. Wir wollten miteinander zu Abend essen. Schon vergessen? Aber hallo!‹
Doch niemand hebt ab. Stattdessen springt die Mailbox an. Seltsam, findet Anna. Sie zögert, entscheidet sich blitzschnell gegen das Zumüllen der Box. Kein Lebenszeichen von Elsa. Das müsste sie sich mal erlauben, ärgert sie sich, als sie die Auflegetaste drückt.
Ob es nachts Tiere gibt, die ihr zu nahe kommen können, weiß Elsa nicht. Der Gedanke taucht im unpassendsten Moment auf. Rasch verdrängt sie ihn, versucht an etwas Aufmunterndes zu denken. Noch immer hastet sie Richtung Tal. Unten erkennt sie inzwischen erste kleine Lichtpunkte. Von Fenstern, Autoscheinwerfern, Straßenlaternen. Elsa atmet tief durch. Sie weiß nicht, ob sie noch in die richtige Richtung läuft. Die, die sie zu ihrem Wagen bringt. Dann wundert sie sich über derartigen Gedanken-Luxus. Hauptsache, sie findet überhaupt zurück. Kaum ist das zu Ende gedacht, meldet sich ihr schlechtes Gewissen. Anna wird sich vermutlich längst Sorgen machen. Sie lacht auf. Sich Sorgen machen? Den Zustand kann sie inzwischen blind beschreiben.
Plötzlich stolpert sie über eine Wurzel. Ihr Fuß knickt um. Ein scharfer, stechender Schmerz flammt auf. Elsa saugt laut die Luft durch die Zähne ein. Die Schwärze um sie herum verdichtet sich unerwartet noch einmal. Dann wird sie von einer Windböe erfasst. Instinktiv ist sie stehen geblieben. Versucht, sich zu fassen. Sie hofft, dass sie sich nicht den Fuß verstaucht hat. Das könnte böse enden. Ob sie weiterlaufen kann, ist alles, was sie interessiert. Nur keine Zeit verlieren. Sie kniet nieder, ertastet mit der Hand die schmerzende Stelle. Nichts zu erkennen. Kurze Erleichterung. Vorsichtig versucht sie weiterzugehen. Ein Schritt, ach was, höchstens ein halber. Dann ein spitzer Schrei. Jetzt ist sie sicher. Gleich wird
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