Engpass
über das, was sie vorgefunden hat, in sich aufsteigen. Doch da ist noch etwas anderes. Etwas, das tiefer geht und das sie am liebsten vor sich selbst verbergen würde.
Elsa sieht sich einer sie überrollenden Welle aus Entsetzen und Scham ausgesetzt. Diese beklemmende Mischung scheint ihr die Kehle zuzuschnüren, wenn sie an ihr letztes Zusammentreffen mit Karl Degenwald denkt. Dem Mann, dem sie einen Mord zugetraut, und, was noch schlimmer ist, das auf den Kopf zugesagt hatte.
14. Kapitel
Degenwald trinkt einen Schluck Kaffee und beißt in eine Laugenbrezel. Er hat keinen blassen Schimmer, was ihn heute derart hungrig macht. Er könnte auf der Stelle ein fünfgängiges Menü verzehren. Dazu ein frischgezapftes Bier. Degenwalds Zunge schnellt über die Lippen. Eine heroische Vorstellung. Doch anstatt tatsächlich im Genuss zu schwelgen, hat er nebenan Götz Bramlitz’ Anwalt sitzen. Angeblich könne sein Mandant heute nicht auf dem Präsidium erscheinen, hat ihm der schon von Weitem erfolgreich wirkende Jurist vor wenigen Minuten mitgeteilt. Mit verschlossener Miene und einem süffisanten Lächeln, das er der Nachricht hinterherschickte. Herr Bramlitz habe einen Zusammenbruch erlitten. Nach Vorlage des ärztlichen Attests, das er sich, darauf ging Degenwald jede Wette ein, aufgrund seiner hervorragenden Kontakte ergaunert hatte, blieb nichts übrig, als sich in sein Büro zurückzuziehen. In Ruhe zwei Bissen von der Brezel und etliche Schlucke Kaffee trinken, solange der noch heiß war, das kann er sich nun, in Anbetracht der Lage, durchaus leisten. Den Frust, der sich wegen des verpatzten Verhörs bei ihm einstellt, versucht Degenwald nicht an sich heranzulassen. Die Zeiten, als er so was nötig gehabt hatte, sind längst vorbei. Trotzdem fuchst ihn der Gedanke, dass Bramlitz wertvolle Zeit für sich herausschinden konnte. Zeit, die er dazu nutzen würde, sich vom letzten Verhör zu erholen und erneut innere Stärke und Überlegenheit auf sein Konto zu verbuchen. All das, um ihm demnächst, erstarkt, erneut gegenüberzutreten. Wie beim Gladiatorenkampf in der Arena in Rom, kommt es Degenwald in den Sinn. Er legt die Brezel achtlos beiseite. Als er aufsteht, wirft er einen automatischen Blick aus dem Fenster. Unten steuert Ben Fürnkreis dem Eingang zu.
Elsa hat den schnellen Weg ins Tal angetreten. Unbedacht tut sie Schritt um Schritt, setzt Fuß vor Fuß. Es ist mehr Laufen als Gehen. Die Dämmerung, die längst eingesetzt hat, treibt sie zur Eile an. Die Berge, noch wenige Augenblicke zuvor von einem letzten schwachen Lichtschein angestrahlt, versinken jetzt in starre Dunkelheit. Die Zeit, die sie zuvor, in der Hütte, vergessen hatte, bringt sich jetzt unangenehm in Erinnerung. An eine Taschenlampe hatte sie am Morgen, beim Packen des Rucksacks, nicht gedacht. Stumm hadert sie deshalb mit sich. Schimpft sich wegen des mangelhaft geplanten Trips aus. So etwas darf ihr einfach nicht passieren. Andererseits, einen Schatz an derart verqueren Indizien – der Birgit Leiners Psyche ein Stück weit offenlegt und ein dringendes Motiv für den Mord an Silke Maihauser liefert –, darauf hatte sie nicht gehofft. Alles, was sie oben am Berg gefunden hat, rechtfertigt, rückblickend, ihren Aufbruch.
Plötzlich erscheint alles im neuen Licht. Die Schuld, die sie die ganze Zeit über auf Karl Degenwalds Schultern geladen hat, ist nun auf die von Birgit Leiner übergegangen. Schwere Schuld. Schon bringt sie die Haushälterin des Opfers mit dem Wort ›Mord‹ in Verbindung. Ob vorsätzlich, bleibt abzuwarten. Es spricht viel dafür, dass es so gewesen sein könnte. Birgit Leiner ist schuldig. Auf die ein oder andere Weise. Das muss sie nur noch beweisen.
Elsa wandert bereits eine ganze Weile talwärts, als eine unbestimmte Angst in ihr hochkriecht. Plötzlich kommt ihr absurd vor, was sie da treibt. Gehen, sich abmühen. Immer nur einen Fuß vor den anderen setzen. Längst hat sie ihre Fersen mit Pflaster eingepackt. Notdürftig, im Dunkeln.
Zuvor, als es noch heller gewesen ist, hat sie etwas im Seitenfach ihres Rucksacks gefunden. Einen Auszug aus einem philosophischen Buch, das sie, nach einem Meditationslehrgang, aufmerksam gelesen hatte: ›Wer den Halt an sich selbst verloren hat, sucht bei anderen. Vor allem Fehler, Schwächen und Schuld. Wende dich einwärts. Dort findest du dich! Damit erlischt jede Schuld. Bei dir gibt es keine Verzweiflung, keinen Mord. Denn du bist und dort ist!‹
Elsa hat
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