Engpass
Eltern, die inzwischen im Seniorenheim leben, ihren Hund und Fred Maihauser. Birgit Leiner kann offenbar mit nichts anderem aufwarten. Ihr Leben gibt nicht mehr her als die eigene Herkunft, die Eltern, ergänzt von der sicheren Wärme, die ihr Hasso, ihr Hund, vermittelt. Bei all dem muss ihr Job, die Arbeit im Hause Maihauser, geradezu aufregend erschienen sein. Dort genoss sie ein Parallelleben. Rund um Fred Maihauser spielte sich etwas ab, von dem auch sie betroffen war. Physisch und psychisch.
In einem der Liebesromane, die die Haushälterin, einer Sucht gleich, liest, wird Elsa erneut fündig. Ein weiteres Bild von Maihauser. Er steht neben Silke, seiner verstorbenen Frau, und lächelt gezwungen in die Kamera. Mit einem riesigen schwarzen ›X‹ hat jemand Silke aus Maihausers Leben herausgestrichen. Zusätzlich wurde der Kopf der jungen Frau mit schwarzem Kugelschreiber übermalt. Gott sei Dank nur halbherzig, sodass Elsa ihre Identität noch feststellen kann.
In ihr reift mehr und mehr ein Gedanke, der Form und Leben annimmt. Birgit Leiners Psyche mutiert, von Minute zu Minute mehr, zu einer Frau, die man gut und gern als besessen einstufen kann. Wenn sie in Fred Maihauser zu der Zeit verliebt gewesen war, als er in einer unglücklichen Ehe mit Silke lebte, konnte eine Frau wie Birgit da nicht das Leid ihres Geliebten zu viel geworden sein? Konnte sie derart darunter gelitten haben, dass sie sich zu einer unüberlegten oder, was noch schlimmer war, wohlüberlegten Handlung entschlossen hatte? Einer, die in der gewaltsamen Beendigung eines viel zu jungen Lebens gipfelte?
Elsa überkommt ein Schauer. Die feinen Haare auf ihrem Körper stellen sich auf.
Ihr Beruf konfrontiert sie ständig mit den übelsten Ausschweifungen, aber brutaler, vorsätzlicher Mord erscheint ihr nie selbstverständlich. Jedes Mal betrachtet sie die Tat durch ihre Augen als das Abscheulichste, was ein Mensch einem anderen antun kann. Jeder Fall bleibt dahingehend gleich, dass sie sich, meist hinterher, wenn die Täterin oder der Täter verhaftet ist, aufs Neue fragt, ob die Verurteilung etwas verbessert oder gar ändert. Ist nicht derselbe Impuls am Werk, der eine negative Handlung gegen den Willen eines Menschen ausübt und ihn – später – richtet? Kann man ein Unglück durch ein anderes auslöschen oder berichtigen? Ist überhaupt jemandem geholfen, indem man einen Menschen wegsperrt? Oft genug muss sie zugeben, dass es keine andere Möglichkeit gibt. Etwa bei Vergewaltigung, Kindesmissbrauch und vielem mehr. Oft jedoch bekommt sie Mitleid, erkennt, was einen Menschen dahin geführt, sozusagen irregeführt hat. Der Täter ist oft genug selbst Opfer. Nur die Zeit trennt beide Ereignisse voneinander. Und so wurde jemand zuerst missbraucht, an Leib oder Seele, bevor er selbst das Leben eines anderen missbraucht. Ein schrecklicher, unentrinnbarer Kreislauf.
Draußen, das stellt Elsa endlich fest, hat die Dämmerung eingesetzt. Es kann noch nicht lange her sein, da muss die vorangeschrittene Zeit die Berggipfel in ein zart rosarotes Lichtband gehüllt haben. Davon, wie von vielem anderen um sie herum, hat Elsa nichts mitbekommen.
Inzwischen ist sie sich sicher. Der zerschlissene Sessel im Wohnraum der Hütte stammt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus der Villa von Fred Maihauser. Vermutlich handelt es sich um ein ausrangiertes Stück. Ersetzt durch ein neueres, teureres. Diesen Teil Leben hatte Birgit sich, wie auch immer, gesichert. Sie hatte – innerlich triumphierend? – auf demselben Leder gesessen wie ihr Arbeitgeber. Wie der Mann, den sie anhimmelte oder für dessen Wohlergehen sie ehern kämpfte. Gegen alle Widrigkeiten, alle Schlechtigkeit seiner Ehefrau, dieses Flittchens, wie Birgit Silke nannte.
Elsa weiß, dass sie für ihre Überlegungen, den Verdacht, dass Birgit etwas mit Silke Maihausers gewaltsamem Tod zu tun hat, Beweise braucht. Alles, was sie hier vorfindet, sind Indizien. Indizien, die für die Übernahme des Sessels sprechen, vermutlich gegen Fred Maihausers Wissen oder Einwilligung, denn dann wäre ihm vielleicht die Schwärmerei seiner Angestellten oder ihr hartes Urteil, was Sitte, Anstand und Moral anbelangte, aufgefallen.
Elsa entscheidet sich, für heute Schluss zu machen. Sie hat genug gesehen. Morgen soll Ben Fürnkreis hier übernehmen. Die Spurentechnik hat sicher an ihrem Fund Interesse.
Sie spürt eine Mischung aus innerer Anspannung und nervöser Zufriedenheit
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