Engpass
indem sie die Türklinke hinunterdrückt. Gleich wird sie ihn sehen. Aber er weigert sich zurückzustarren. Er hastet ein letztes, verzweifeltes Mal nach Atem. Spürt, wie ihm der Urin unfreiwillig die Beine hinunterrinnt. Warm und klebrig. Einem kleinen Kind gleich. Angst durchzuckt ihn mit der fürchterlichen Schwere und Gewissheit der Unabwendbarkeit. Ehe sie den Raum erobert, drückt er ab.
Elsa steht einfach nur da. Zur Bewegungslosigkeit verdammt. Ihre Dienstwaffe kommt ihr plötzlich wie ein Folterinstrument vor. Um sie herum ein einziges Blutbad. Mittendrin Götz Bramlitz’ Leiche. Er hat sich selbst gerichtet.
Sie weiß nicht, weshalb, aber ihr fallen Mahatma Gandhis berühmte Worte ein: ›Die Waffe der Gewaltlosigkeit kehrt die Gewalt in ihr Gegenteil.‹
Sie hat den Rest dieses Mannes, den sie vor sich sieht, nicht retten können. Nicht seinen Körper und nicht seine Seele.
Ohne sich recht darüber klar zu sein, faltet sie ihre Hände zum Gebet:
›Ich gedenke dieses Menschen,
der heimgegangen ist.
Er ist nicht ins Grab gestorben,
sondern in deine Liebe
und Ewigkeit.‹
Elsa spürt eine unbändige Sehnsucht nach Vergebung und Liebe. Mit diesem Gefühl im Herzen dreht sie um und verlässt den Raum des Grauens. Sie wird Degenwald, Hörnchen und Ben Fürnkreis anrufen. Mehr gibt es nicht für sie zu tun.
Anna sitzt Elsa in der Küche gegenüber. In sich gekehrt, müde und traurig.
»Kannst du mir sagen, was jetzt mit Dino wird? Seine Mutter angeklagt und sein Stiefvater sterbenskrank. Das ist es doch, was du mir gerade mitgeteilt hast, oder?«
Elsa schaut ihre Tochter an und weiß nichts zu sagen. Wie soll man auch solcherlei beantworten, ohne pathetisch zu werden oder als Verrückte zu gelten? Trotzdem will sie keine Antwort schuldig bleiben. Sie überlegt eine Weile und beginnt dann mit dem Versuch einer Erklärung.
»Albert Einstein sagt: ›Das Leben lässt sich auf zwei Arten leben: Zum einen so, als wäre nichts ein Wunder. Zum anderen so, als wäre alles ein Wunder.‹« Sie schaut Anna an. Versucht, ihren Blick aufzufangen und darin zu verweilen. »Ich halte es mit Einstein. Für mich ist alles ein Wunder.«
»Ein Wunder?« Anna lacht empört auf. »Was oder wo ist hier ein Wunder? Sag’s mir.«
»Alles ist kostbar und deshalb ein Wunder, Anna. Sogar ein Grashalm, der uns vielleicht nie wirklich auffällt. Jedes Tier, alle Pflanzen, sogar Steine, Wasser, Situationen. Wir sind alle miteinander verbunden und ein Wunder.« Elsa zögert und sucht in Annas Augen nach einem Ansatz von Verständnis. »Ich möchte Menschen klarmachen, wie kostbar wir sind. Sogar der Mörder gehört dazu. Zu uns, in unsere Gemeinschaft. Wir müssen ihm zeigen, dass er etwas Falsches getan, anderen und sich selbst schreckliches Leid zugefügt hat. Aber er bleibt trotz allem ein Teil unserer Gesellschaft, er bleibt Mensch. Nichts wird besser, weil wir bestrafen. Aber ein Lächeln, einmal Mitgefühl, wo Hass ebenso existieren könnte, hilft vielleicht. Deshalb, um Menschen das klarzumachen, habe ich meinen Beruf ergriffen.«
Anna sieht ihre Mutter plötzlich mit anderen Augen. Sie schluckt, ist ergriffen von dem, was sie nie zuvor aus ihrem Mund gehört hat.
»Du glaubst daran, was du gerade so schwülstig formuliert hast.« Es ist eher eine Feststellung als eine Frage.
Elsa nickt. »Es lässt mich die Schrecken ertragen, die meine Arbeit mit sich bringt. Sonst würde ich nichts davon verkraften.«
Am nächsten Morgen erfährt sie die wichtigsten Neuigkeiten. Michael Horn steht schon in aller Herrgottsfrühe in Degenwalds Büro, vor sich eine Tasse Kaffee und eine Brezel.
»Einen wundervollen guten Morgen, Frau Wegener!« Hörnchen grinst schief zur Begrüßung und bietet ihr vom Gebäck an.
Elsa nimmt eine Brezel und beißt hinein. »Der schönste Moment ist immer der, wenn alles erledigt ist. Ich nehme an, ihr seht das genauso?«
»Endgültig erledigt«, fügt Degenwald an und grinst mindestens so breit wie sein Kollege vom gerichtsmedizinischen Institut.
»Die Fäden in Aurelia Bramlitz’ Lunge stammen von Götz Bramlitz’ Anzug, den er uns freundlicherweise überlassen hat. Er ist, ich meine, war der Täter. Auch wenn die Hanne Maihauser mit ihrem Messer ganz passable Vorarbeit geleistet hat.«
Hörnchen kichert, als habe er schon am frühen Morgen getrunken, was natürlich nicht der Fall war. Elsa kannte dieses Phänomen. Man machte sich über die schrecklichsten Dinge lustig,
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