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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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Unabhängigkeit blieb. Die Liste, was sie nicht getan hatte. Bis jetzt. Jedenfalls. Eine Liste. Sie saß da. Das Dröhnen rund um sie. Das Paar neben ihr hatte aufgegessen. Sie hatten die Behälter und Becher und Flaschen ineinander gestapelt. Sie saßen zurückgelehnt. Schliefen. Die Köpfe zusammen. Selma steckte die Wasserflasche in den Kaffeebecher. Klappte das Tischchen hoch. Klemmte den Becher in die Tasche am Vordersitz. Sie schob die Sonnenblende hinauf. Schaute hinaus. Blauer Himmel. Sonnenleuchten. Tief unten. War das das Meer. Waren sie schon so weit. Waren sie schon so lange geflogen. Sie schaute hinunter. Beugte sich vor, besser hinauszusehen. Schwarzblau. Das Meer. Sie setzte sich wieder auf. Die Menschen rundum. Schliefen. Lasen. Die gebändigte Herde. Gefüttert und getränkt. Ihr wurde schlecht von diesem Elend. Dass es wirklich so war. Dass man ihnen wirklich nur etwas zu essen geben musste. Und zu trinken. Und dann war Ruhe. Und dann konnte sie zu ihren Misserfolgen auch noch das berufliche Scheitern zählen. Alle diese Menschen. Sie schaute wieder nach dem Meer. Alle diese Menschen gingen in Museen und Theater und Konzerte. Die Kunst. Die Künste. Ergänzung war das. Komplettierung eines Lebensstils. Es war um nichts gegangen. Darin. Es ging um nichts. Und ein Glück, wenn einer es noch zum Märtyrer schaffte. Als Künstler. Mit seiner Kunst. Und die Frauen hatten es also auch darin nicht geschafft. Weil Frauen immer schon Märtyrerinnen waren. Weil in jeder Entscheidung für Frauen immer genau beschrieben war, worauf diese Frau nun verzichten musste. So gesehen waren alle Frauen Künstlerinnen. Aber damit keine. Sie sah hinunter. Die dunkle Fläche. Sie legte die Stirn gegen die beige Umrahmung des Fensters. Vom Glas Kälte gegen die Stirn. Die Wange. Links. Der Luftstrom rechts. Der Kopf umfangen von den kühlen Strömen. Sie spürte den Mund. Die Zunge gegen den Gaumen gedrückt. Sie schluckte. Schob den Speichel über die Zungenränder in den Rachen. Der Druck gegen die Kehle. Dann auch der Hals wieder still. Die Brust. Das Heben und Senken des Atmens. Leise. Kein Innen. Die Oberschenkel. Hinten. Der Rücken. Den Sitz fühlen konnte. Das Innen ihr unerreichbar ausgebreitet. Endlos sein hätte können. Sie wusste es nicht. Sie sah hinunter. Die Küste kam in Sicht. Krakelige braungrüne Finger ins Meer ragten. Das Meer in einem weißen Rand gegen die Landzungen endete. Eine weiße Grenze. Sie saß. Sie saß über ihrer Leere und wünschte sich den drängenden Druck der Verzweiflung zurück. Wünschte sich die Knoten und Ballungen um die Mitte. Die Unordnung des Wütens. Die Atemlosigkeit der Überfälle des Begreifens. Wie das Wissen über sie hereingebrochen. Von vorne. Eine Flut. Und dann die Erinnerung des Wissens und das Wissen-Müssen. Dass das jetzt ihr Leben war. Und dass es nur die zwei Möglichkeiten gab. Sich in die Flut werfen. Oder sich überfluten lassen. Und aufgeben. Sich überwältigen lassen davon. Sie wünschte sich irgendeine Regung. Wünschte sich einen Herzschlag. Eine Unregelmäßigkeit. Ein Hämmern. Damit sie wissen konnte, ob das Herz noch da war. Das Herz noch schlug. Ein Rasen. Der Anschlag gegen sie war ja immer noch derselbe Anschlag. Derselbe Überfall. Auch wenn die Zeit verging. Das Leben weiterging. Sie konnte nichts spüren. Die Landschaft unten in Rechtecke geteilt. Quadrate. Häuser. Hausansammlungen. Sie sich selber gleich weit vorkam. Gleich entfernt. Sie legte die Arme um sich. Verschränkte die Arme vor der Brust. Die Brust. Den Bauch. Von außen. Wenigstens. Nur von außen wusste, dass sie lebte. Rund um sie. Es wurde wieder unruhig. Die Person im Sitz vor ihr stand auf. Die anderen in der Reihe mussten Platz machen. Die Person durchlassen. Selma hörte das Reiben und Wetzen. Wie aufgestanden wurde. Hinausgedrängt. Hingesetzt. Wieder aufgestanden. Wieder hingesetzt. Unten. Auf dem Boden. Orte. Nur noch Häuser. Kaum Land. Oder Felder. Oder ein Wald. Häuser und Gärten. Fabriken. Hallen. Schlote. Breite Straßen. Autos. Lastwagen. Winzige Hausreihen. Die Leere in ihr. Keine Bewegung und kein Geräusch. Sich thronen fühlte. Den Kopf. Knapp hinter den Augen. Hinter der Stirn. Da, wo sie dachte. Sie sich wusste. Über sich selbst thronend. Majestätisch über dem Nichts in sich schwebend. Oder das Nichts majestätisch. Auch das nicht wusste. Auf einmal. Und sich selbst keinen Rat wusste. Sich selbst keinen Rat geben konnte. Keinen Auftrag. Sich wieder

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