Entfesselt

hast du ihm also nicht geglaubt?« Sie schien sehr erpicht auf meine Antwort zu sein.
      »Ich ... also, es würde mich nicht überraschen, wenn du mir nicht vertraust.« Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und sie musste den Kopf zu mir neigen, um mich zu verstehen. »Es würde mich nicht wundern, wenn du mich aufgibst.« Ich sah zu ihr auf. »Aber - ich denke, das hättest du mir gesagt. Und das hast du nicht. Jedenfalls bis jetzt nicht. Und ich glaube dir mehr, als ich ihm geglaubt habe.«
      Mit einem traurigen Lächeln legte mir River eine Hand auf die Wange. »Danke für dein Vertrauen«, sagte sie leise. »Daniel hat gelogen. Danke, dass du an mich geglaubt hast.«
      Sie dankte mir, dass ich an sie glaubte? Ihr vertraute?
      Plötzlich wurde die Küchentür mit einem Krachen aufgestoßen und wir zuckten alle zusammen. Reyn stand mit steinerner Miene in der Tür. »Da kommt etwas«, sagte er eindringlich.

30
 
      Einen Moment lang standen wir nur da und sahen einander stumm an.
      »Was kommt?«, fragte River.
      »Weiß nicht«, entgegnete Reyn. »Verlasst die Küche.«
      River verriegelte blitzschnell die Küchentür und wir rannten ins Esszimmer. Reyn begann, das schwere Sideboard vor die Schwingtür zur Küche zu schieben. Ottavio kam ihm zu Hilfe und wir anderen stemmten uns mit dem Rücken dagegen.
      Auf der Treppe waren Laufschritte zu hören, dann stürmten Amy und Asher zu uns ins Esszimmer.
      »Im Wald!«, schnaufte Amy. »Da sind Leute - nicht zu erkennen - aber sie kommen auf uns zu!«
      »Wie viele?«, fragte Reyn sofort. »Aus welcher Richtung?«
      »Mindestens vierzig«, sagte Asher. »Vielleicht mehr. Aus allen Richtungen.«
      Mein Mund stand offen. Vierzig! Oh mein Gott! Wir hatten mit einem oder zwei gerechnet, vielleicht auch mit einer zu allem entschlossenen Fünfergruppe! Aber vierzig? Vierzig böse Unsterbliche, die uns töten wollten? Erik, der Blutrünstige, hatte mit nur elf Männern die gesamte Burg meines Vaters eingenommen! Und wir hatten eine Garde gehabt!
      »Oh heilige Mutter«, hauchte River, die unwillkürlich die Hand an den Mund gehoben hatte.
      Und dann ging es los.
      Beim ersten ohrenbetäubenden Krachen riss ich mit pochendem Herzen mein Schwert heraus. Wir hatten die hölzernen Fensterläden vor allen Fenstern geschlossen, aber was wir wirklich brauchten, war ein Haus aus massivem Stahl. Das dazu noch mit Beschwörungen imprägniert war, die jede Magie abwiesen.
      »River! Schnell!«, rief Anne. Sie nahm eine Packung Salz und machte damit auf dem Boden der Eingangshalle einen Zirkel. River und Ottavio betraten ihn und Anne zog eine letzte Linie, um ihn zu schließen. Die drei fassten sich an den Händen, riefen ihre Kraft herbei und begannen, den neuen Schutzzauber aufzubauen, an dem sie seit Tagen gearbeitet hatten.
      Etwas knallte gegen einen anderen Fensterladen. Auf das Geräusch von brechendem Glas folgte sofort ein Feuerball, der das Wohnzimmer taghell erleuchtete.
      »Geht alle auf eure Posten«, befahl Reyn. Unsere Blicke trafen sich ganz kurz und mich überraschte der tiefe Schmerz in seinen Augen. Ob er sich über die Angst in meinen wunderte? Vermutlich nicht.
      »Auf dieser Seite des Hauses sind mehr von ihnen als auf der anderen«, berichtete Daisuke, der aus dem Esszimmer kam.
      »Ich habe das Sideboard vor der Küchentür noch durch eine Beschwörung gesichert.«
      So schnell wie es aufgeflammt war, erlosch das Feuer draußen wieder. Rivers Augen waren vor Konzentration geschlossen, aber ihre Schultern hingen entspannt herab; es gelang ihr tatsächlich, alles außer ihrem Zauber auszublenden.
      Ein grauenvolles Heulen von draußen traf meine Nerven wie das Kratzen eines Fingernagels auf einer Schultafel. Sofort fühlte ich mich wie benebelt und betrachtete teilnahmslos mein Schwert, weil ich keine Ahnung mehr hatte, wozu das Ding gut war.
      »Blockiert sie!«, brüllte Joshua, der aus Rivers Büro kam. »Sie manipulieren euch! Wehrt sie ab! Verschließt eure Gedanken!« Seine Worte rüttelten mich wach, vertrieben den Nebel und ich verschloss mein Bewusstsein vor den äußeren Einflüssen, wie Anne es mir so viele Male gezeigt hatte.
      Dann hörte ich Schritte auf den Eingangsstufen und war vor Angst wie gelähmt. Ich konnte mich ihnen nicht entgegenstellen. Wenn doch nur jemand von hinten käme und ihnen in den Rücken fallen und sie niedermetzeln wür-
      »Reyn!«
      »Was?« Er war kampfbereit und