Entfesselte Energien (Band 1)
sie, „kannst ja heute mal ohne Mantel nach Hause gehen, oder?“ Sie trat ans Fenster und suchte mit dem Glas irgendetwas eifrig in der nächtlichen Ferne. Plötzlich sprang sie an den Tisch zurück und setzte das Glas hin. „Nimm deinen Hut, Franz komm, wir gehen!“
„ Was hast Du?! Was ist denn los?“
Tess hatte einen Umhang um die Schultern geworfen und zog ihn zur Türe. „Komm! Draußen sag ich dir ‘s gleich.“ Sie eilte die Treppe hinunter, kaum das er folgen konnte.
„ Zum Institut!“, rief sie über die Schulter.
„ Was ist da?“
Sie antwortete nicht und lief weiter voran. Erst kurz vor dem chemischen Institut machte sie Halt und spähte nach den Fenstern hinauf. „Siehst du’s auch?“, flüsterte sie ihm ins Ohr und wies nach einem matten Lichtschein, der dort oben auftauchte und gleich wieder verschwand, dann an einer anderen Stelle wieder erschien und so wie ein Irrlicht oben herumgeisterte.
„ Was ist das?“, fragte er. „Hast du eine Ahnung?“
Sie winkte ab und lauschte – „Hörst du?“, raunte sie erregt.
„ Was?“
„ Eine Tür ging!“
„ Nichts gehört.“
„ Da! Da! – Schnell nach vorne! Sie kommen heraus!“
In wahnsinniger Hast rannten die beiden ums Haus herum. Richtig, da drückten sich zwei Gesellen durch das Dunkel an den Häusern entlang.
„Ihnen nach!“, hauchte Tess. „Vorsichtig, dass sie nichts merken! – Junge Kerle sind’s wohl.“
„ Sehr gewandt!“
„ Ausgekochte Hallunken!“
„ Was haben die da gewollt?“
„ Spionieren!“
„ Aber was?“
„ Halt!“ Tess zog den Freund mit Gewalt in den Häuserschatten. – „Da bleiben sie stehen!“
„ Sie schließen auf – einer geht hinein!“
„ Nur einer! – Der andere schleicht weiter. Merk dir das Haus!“
„ Ja. – Komm! Jetzt dem anderen nach!“ Sie blieb zurück. „Franz!“
„ Ja?“
„ Geh du weiter! Ich muss …“
„ Was musst du?“
„ Zu ihm. Gleich zu ihm! – Bis morgen!“
„ Gute Nacht!“
Einen Augenblick lang dachte Tess daran, zur Polizei zu laufen, aber sie gab den Gedanken wieder auf und machte sich auf den Weg zu Riemenschneiders Haus.
Die Haustüre war noch offen. Durch den geräumigen Flur sah man nach der Hintertüre, durch deren Glasscheiben mattes Licht schimmerte. Tess ahnte, dass hinter dem Hause eine Veranda sein müsse, von der aus das Licht seitlich auf die Hintertüre fallen mochte. Irgendetwas sagte ihr: Gehe gleich nach hinten hindurch! Und sie tat so. Leise klinkte sie die Hintertüre auf und spähte nach links – richtig, da war die Veranda. Überrascht blieb sie einige Sekunden lang stehen, wo sie stand. Wo hatte sie solch ein Bild schon einmal gesehen? In dieser realen Welt überhaupt noch nicht. Aber vielleicht bei Spitzweg? Oder bei Ludwig Richter! – ‘‘Er’’ saß im Kreise seiner Lieben, behaglich in einen Rohrsessel zurückgelehnt, den mütterliche Sorgfalt mit Kissen reichlich ausgestattet hatte. Nie hätte sie „Ihn“, den großen Denker, ihren Perikles so entspannt, aufgeheitert, so nur Mensch unter Menschen sich vorstellen können. Aber auch so, als Mensch war er groß und herrlich; halb Patriarch, halb Vater.
Ihm gegenüber saß seine Mutter, zur Rechten die Braut. Ja, die Braut! Man konnte den goldenen Ring an ihrem Finger glänzen sehen – bis hierher! Ein bisschen schlucken musste sie. Die beiden Frauen schauten auf ihren ‘‘Weisen’’, ganz hingegeben, noch ganz im Bann dessen, was er ihnen eben erklärt haben mochte.
Könnte ich hier weilen, dachte Tess, nur immer hier stehen und dieses Bild betrachten! Es wäre Seligkeit, aber wie darf ich jetzt selig sein, wo ‘‘Ihm’’ Gefahr droht! Gerade hatte auch Lore, die Braut, sie entdeckt, sie war im Begriff aufzuschreien. Tess winkte ihr lächelnd ab und trat vor. Die Mutter fuhr nun doch erschreckt auf, aber ‘‘Er’’ wandte nur leicht das Haupt ihr zu und lächelte, kaum ein wenig erstaunt, seinen ihr so vertrauten Gruß.
„ Nun, Fräulein von Leudelfingen, was gibt uns die Ehre – hm – ihres so späten Besuches?“ Er erhob sich, alle anderen mit ihm.
Tess grüßte atemlos kurz, kaum ließ sie sich vorstellen, dann rief sie erregt, in neu ausbrechender Empörung: „Sie sind eingebrochen!“
„ Wo?“
„ Im Institut!“
„ Ja!“ Jetzt war er wieder der Riemenschneider, jede Faser gespannt und geladen. „Woher wissen sie das?“
„ Wir haben sie gesehen. Zwei Burschen! Sie müssen einen Nachschlüssel gehabt
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