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Entfesselte Energien (Band 1)

Entfesselte Energien (Band 1)

Titel: Entfesselte Energien (Band 1) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Collmann
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tröstende Geste angesehen hatte, jubelte fast laut auf, als sie das Briefchen in der Hand hielt, das sie für den Abend wirklich und wahrhaftig in das Laboratorium des Chefs – ihres Chefs – rief. Sie wagte nicht, in den Spiegel zu sehen – schnell am Spiegel vorbei und zur Tür! Abschließen! Nur jetzt nicht überfallen werden! Sie warf sich in die Ecke ihres Sofas und holte die kleine Karte mit den großen Schriftzügen wieder heraus.
     
     
    Kommen sie heute um halb neun in mein Laboratorium! Wir wollen beginnen.
    H R.
     
     
    Zum fünfzehnten Male las sie die Worte und plötzlich kam ihr der Gedanke – erst jetzt kam er ihr – dass sich in ihrem Inneren eine große Veränderung vollzogen hatte, eine Änderung auf einem sehr weit abliegenden Gebiet. Bis hierher hatte sie die Nase gerümpft – wie alle übrigen jungen Leute – über alles, was sich Moral nannte. War nicht stets das Böse, ja sogar das Schlechte viel interessanter gewesen als das Gute! Das priesen alle Romane der neuen Zeit – gerade eben hatte sie einen in der Hand gehabt – und machten es auch sehr einleuchtend. Wer zweifelte mit denn noch daran? Außer den ganz Alten, die noch aus dem vorigen Jahrhundert waren, die Bismarck noch persönlich gekannt hatten? Bismarck! So, jetzt war es heraus: Nur die ganz Großen machen die Geschichte und machen die Moral! Vielleicht ist dies dasselbe? Fehlen diese ganz Großen, dann brechen die Dämme und die Schmutzfluten ergießen sich über das Land. Und die Geschichte wird ausgelöscht!
    In diesem Augenblick erst verstand Tess Hindenburg und – Riemenschneider! Sie waren moralisch – schufen Moral! – Moral!? Was ist Moral? – Nicht das armselige Abwehren des Sexualtriebes, worauf die Jugend und die Romane der Revolutionszeit es so gerne hinausspielten, wobei sie den Spießbürger, den Mucker als ihren ewigen und einzigen Feind hinstellten. O nein, ihre wahren Feinde saßen wo ganz anders; da, wo auch die Feinde der Philister saßen. Wie kann der Schöpfer schaffen, wenn nicht der Boden trocken ist, wo er seine Werke aufbauen will! Also muss er die Schmutzfinken hinwegfegen, die die Dämme einreißen. Muss er aber nicht auch in gleicher Weise wie die Zerstörer die kleinlichen, ebenso jämmerlichen Erhalter fortscheuchen, die die nützlichen und niedrigen Werke des Alltags ausbreiten und keinen Raum lassen für das Große, das sie fürchten, sei es Schöpfung, sei es Zerstörung!
    Wie komme ich eben gerade auf solche Gedanken , fragte sich Tess, die kleine Karte in der Hand betrachtend. Vielleicht weil ich all dieses, dem auch ich in mir Raum gegeben habe, erst austilgen musste, ehe ich dieser Einladung folge leisten durfte. Habe nicht auch ich diesen ganzen antimoralistischen Blödsinn gedankenlos nachgeplappert, nachgeglaubt bis zu dieser Stunde, wo mir eine Ahnung aufgeht, dass es wahrhaft freie und große Geister gibt, die nicht ‘‘Moralfrei’’ sind? Sie trat an ihr Bücherbrett und räumte einige Reihen leer. Man kann zwar nicht wochenlang die öffentlichen Bäder damit heizen, aber um einige Wasserkessel auf dem Herd Tante Attilas zum Kochen zu bringen, dazu reichen diese Bände wohl aus.
    Als die Zeit heranrückte, sich für den großen Gang fertigzumachen, holte Tess ihr kostbarstes Kleid aus dem Schrank. Ganz feierlich fühlte sie sich, wie eine Braut vor der Feier. Nein, wie ein Soldat vor seiner ersten Schlacht. Aber als sie sich im Spiegel betrachtete: birkengrünen Crêpe de Chiné mit breitem dunkelgrünen Kragen und feinen Spitzen eingefasst und Spitzen an den Ärmeln und am Dekolleté, dazu ein Medaillon aus zartester Goldfiligranarbeit mit einem mächtigen Rubin in der Mitte, da kam es ihr doch so lächerlich vor, in diesem Aufzug in das Institut zu gehen, zu ernster Arbeit! Mit einem Mann, der über solchen Firlefanz nur lachen würde – falls er ihn überhaupt sähe! Sie zog sich wieder aus und hängte das Kleid fort, halb wehmütig, halb triumphierend. Werde ich es jemals noch brauchen können? Ich glaube, die Zeiten sind für immer vorbei. Doch es ist gut so; irgendwo habe ich mal gelesen, dass im Jenseits unser einziger Schmuck tiefe Gedanken und schöne Gefühle sein werden. Wenn das wahr ist – und ich wüsste nicht, warum es nicht wahr sein sollte – dann leben jetzt vielleicht einige Menschen, die so, wie sie da sind, ‘‘hinübergehen’’ könnten, die eigentlich schon ‘‘drüben’’ sind.
    Tess zog ihr Alltagskleid wieder an, packte einen weißen

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