Entfesselte Energien (Band 1)
losprasselte.
„ Licht aus!“, rief Riemenschneider, mit starker Stimme das Prasseln übertönend. „Der Zeiger!!“
„ Wie??“, schrie Tessis helle Stimme zurück.
„ Der Zeiger steigt!“
„ Wo??“
„ Da!!“
„ Ja, Gott! Unheimlich!“
„ Jetzt Vorsicht! Zurücktreten! Ich will weiterschalten: 50.000 Volt!“ Das Geprassel verstärkte sich. Unglaublich schnellte der Zeiger in die Höhe.
„ Ist das möglich?“
„ Weiter zurück!“, brüllte er.
„ Aber Sie!!“ Widerwillig gehorchte Tess.
„ Ich schütze mich.“ Riemenschneider warf sich etwas Klirrende über den Körper.
„ Was ist das?“
„ Netzdraht! Kupfer!“, brüllte er. „Vorsicht! 100.000 Volt!“
Das Geprassel wurde entsetzlich. Tess schrie auf. „Zurück!“
„ Der Zeiger!! Herr Doktor, der Zeiger!!!“
„ Es gelingt!“, schrie er.
„ Was??“
„ Enorm!“
Es leuchtete, flimmerte, schmetterte und knallte, dass dem Mädchen Hören und Sehen vergingen.
„Zurück?“, schrie er mit furchtbarer Stimme. „Noch weiter zurück! – 200.000 Volt!“
Tess wagte sich nicht mehr an den Tisch. Sie hielt sich die Ohren zu und kauerte sich in eine Ecke am Fenster. Alle Glieder zitterten ihr. Mit Entsetzen sah sie, wie die hohe Gestalt in langen Sätzen an die Schalttafel stürzte und den grässlichen Hebel noch weiter herumwarf.
„ Herr Doktor!!“, kreischte sie.
„ 300.000 Volt!“, brüllte er wie ein Teufel.
Da! Ein blendender Blitz! Ein Knall wie ein Kanonenschuss! – Tess brach mit einem gellenden Aufschrei in die Knie.
Wie lange sie so gelegen hatte, wusste sie später nicht mehr zu sagen. Als sie wieder zu sich kam, war alles dunkel, alles still. Sie griff sich an den Kopf und griff um sich. Es roch furchtbar nach Schwefeldampf. Lebe ich noch? Ist dies noch das ‘‘Diesseits’’?“ Jetzt erinnerte sie sich, dass sie im letzten Augenblick vor dem Weltuntergang in dem grellen Licht die hohe Gestalt des Lehrers nach dem Apparat stürzen sah. „Herr Riemenschneider! – Herr Riemenschneider!!“, schrie sie laut. Sie tastete sich im Dunkeln dorthin, wo er verschwunden war. Alles voll Glassplitter und Metallstücke. „Herr Doktor!“, schrie sie in Todesangst. „Herr Doktor, wo sind sie denn?“
Da tastete sie an etwas Weiches, Warmes, Lebendiges. „Herr Doktor!“, schrie sie und rüttelte an dem, was sie gefasst hatte. Es war die Hüfte ihres Lehrers. O Gott und alle Heiligen seien gelobt! Er bewegt sich! „Herr Doktor! – Herr Doktor! – Herr Doktor sagen sie doch nur ein einziges Wort!“
Der Körper vor ihr warf sich herum und stöhnte. – Aber auf einmal richtete er sich zum Sitzen auf und eine leise, aber ganz klare Stimme sagte: „300.000 Volt waren zu stark für diese Röhre.“
Tess lachte wie eine Irrsinnige. Und dann brachen die befreienden Tränen aus ihren Augen, als sie sah, wie ihr Lehrer aufstand. Sie hörte seine langsamen Schritte durch den Raum gehen. Dann ging das Licht an. Riemenschneider lächelte, etwas weh, etwas verlegen. Er war sehr blass.
Obwohl Tess im Gesicht und an den Armen aus mehreren Wunden blutete, ging sie doch zu ihm hinüber und fragte ihn: „Ist nun das Experiment gelungen?“
Riemenschneider sah über sie weg in große Weiten, weltentrückt, strahlend, als ob er große Gesichte sähe. Unverständliches murmelten seine Lippen. Waren es Formeln? War es eine Sprache, die sie nicht verstand? – Aber dann kam es klar und deutlich von seinen Lippen: „Das Geheimnis der Atomenergie ist gelöst! Alle Maschinen der Welt brauchen nicht soviel Energie, wie in einem Eisenbahnwagen steckt. Unnütz geworden sind alle Kohlenlager, alle Ölfelder, alle Wasserfälle und Windkräfte und die Sonnenenergie, die auf unsere Erde strahlt. Solange das Menschengeschlecht noch existiert, solange die Bedingungen des Lebens noch erfüllt sind auf unserem Planeten, können wir unsere Motoren treiben, unsere Zimmer heizen, alle Fahrzeuge laufen lassen, in der Luft, zu Wasser und zu Lande, alles mit den armseligen paar Drähten und Nägeln der kleinen Eisenhandlung in der Hirschgasse zu Tübingen.“
Als die Blicke Riemenschneiders zurückkehrten in die Welt, die vor ihm lag, in sein Laboratorium, zu der Schülerin, die vor ihm stand, erschrak er. „Sie bluten? Ich habe sie in Gefahr gebracht! Es hätte noch viel schlimmer werden können. Gut, dass ich diesen Schutz angebracht habe!“ Er wies auf eine Bleiplatte von 2 cm Dicke und den Ausmaßen eines
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