Entfesselte Energien (Band 1)
atmete Tess auf, als Franz gegangen war. Keinen Menschen wollte sie sehen! Keinen Gedanken verschwenden! Nur dahingehen durch die Stille und die kühle Nachtluft einatmen! Es ist gar nicht mehr schwül in der Atmosphäre. – Auf die Glocken lauschen, die in der Ferne schlagen. Wie sie heute so wundervoll klingen! – Und das Rauschen oben in den Bäumen! – Oder ist’s tief im Inneren, was dahinzieht wie Wehen des Windes, wie fließender Bach im Wiesentale? – Es zog sie in die Nacht hinaus. Bis Lustnau ging sie. Eins schlug es dort von der Kirche. Da kehrte sie wieder um, kühler, beruhigter, aber noch immer selig.
Lange saß sie auf ihrem Lager, den Kopf in die Hand gestützt, vergaß sich auszuziehen, vergaß, dass es Nacht war. – Plötzlich fiel ihr etwas ein – etwas Schlimmes! Dass sie sich gar nicht mehr freuen konnte! Man hat die Explosion gehört – mit oder ohne Mikrofon! Man wird alle Hebel in Bewegung setzen, hinter sein Geheimnis zu kommen. Sie werden Riemenschneider folgen auf Schritt und Tritt. – Herr Gott, wenn ich jetzt reich wäre! Nur so viel haben, dass ich einen Detektiv bezahlen könnte, der ihn bewachte, der ihm überallhin folgte, der jeden festnähme, der ihm nachginge! Vielleicht ließe sich herausbringen, wer Interesse an seinen Versuchen hat. Gut, dass wir nicht in Amerika sind! Keinen Augenblick hätte ich Ruhe.
Ich will meinen Vetter in Berlin fragen, er soll mir raten, was hier zu tun ist. Ist er nicht überhaupt in der Nachrichtenabteilung des Generalstabs? Dann werden ihm solche Dinge geläufig sein. So interessiere ich ihn auch gleich für Riemenschneider. Wenn ers nicht schon ist!
Noch in der Nacht schrieb Tess an Vetter Leonhard nach Berlin. Erst dann zog sie sich aus und ging zur Ruhe. Versuchte, zur Ruhe zu kommen. Aber es wurde kein Schlaf daraus. Die Worte Heinrichs IV. kamen ihr in den Sinn:
Ihr Niederen, o, wie glücklich ihr euch legt! Schwer ruht das Haupt, das eine Krone trägt.
Wie oft hatte sie in der Heimat ihre Dienstmädchen gefunden, die in der Küche, auf hartem Stuhle sitzend eingeschlafen und kaum wieder aufzuwecken waren. Eine Gemüsefrau, die mit ihrem schweren Korb von weit hergekommen war, saß einmal auf der Steintreppe vor ihrem Schloss, die Hände um ihren Korb gelegt, die Wange auf den Kohlköpfen und schlief, schlief selig, als gäbe es gar keine schönere Lagerstätte auf der weiten Welt als die harte Steintreppe. In dieser Nacht verstand Tess, warum dies so sein musste, was sind Holzsitze und Steintreppen gegen die Bajonettspitzen der Gedanken, auf denen sie gebettet war!
Sie schlief doch endlich ein, aber nicht zum Segen wurde ihr der Schlaf, den der Körper forderte und der Geist nicht hergab. Durch die Morgenstunden hindurch schlug sie sich mit den Feinden Riemenschneiders herum, viel schlimmer als im Wachen, wo der Verstand kontrollieren und der Wille hemmen konnte. Merkwürdigerweise nicht mit Geheimrat Sertorius hatte sie jetzt zu kämpfen, den sie am Tage stets vor sich sah als Verkörperung aller Gegnerschaft gegen Riemenschneider. Viel gefährlicher waren die Banditen, die sie im Traum gegen ihn aufsteigen sah; solche Verbrechergesichter gab es in Deutschland überhaupt nicht, so entmenschte Kreaturen mochten im Hafenviertel von Singapore leben, an der Küste von Neufundland, wo sie die Schiffbrüchigen erst fragen, ob sie auch bezahlen können, ehe sie sie aus dem Wasser ziehen, oder auf Hawai, wo sie harmlose Matrosen, die Landurlaub haben, in ein Institut locken, wo sie von ruchlosen Ärzten zu Vivisektionen benutzt werden. Grauenhafte Qualen der Angst um ihn, den ‘‘Herrlichsten von allen’’ musste sie erleiden und konnte doch nicht helfen, bis es ihr endlich gelang, den Schlaf abzuschütteln und nun wenigstens mit Sinn und Verstand zu sorgen.
Sie stand auf – o, wie gern, – und ging ins Bad, schaute in den Spiegel und sah den Verband, den sie ganz vergessen hatte. Waschen konnte sie sich nur an wenigen Stellen, sie hätte sonst die Verbände lösen müssen, die ihr heilig waren, als hatte sie der Gott der Heilkunst selbst angelegt. Erneuert werden sollten sie erst, wenn die Wunden schlimm würden – was ganz unmöglich war – also überhaupt nicht!
Nach alter Gewohnheit packte Tess ihre Kolleghefte in die Aktentasche und ging fort, in die Vorlesungen. Wollte gehen! Beim ersten Schaufenster, in das ihre Augen wanderten, sah sie – den Verband, den sie schon wieder vergessen hatte. Sie kehrte auf dem
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