Entfesselte Energien (Band 1)
Geschützschildes, die sie bisher gar nicht beachtet hatte. „Wer weiß, was für unbekannte, gefährliche Strahlen wir noch frei gemacht haben außer unseren Elektronenheeren!“
Tess lächelte. „Eigentlich bin ich ein bisschen enttäuscht, ich hatte es mir viel schlimmer vorgestellt.“
„ Aber mein liebes Mädchen! Noch schlimmer?“
Tess errötete ein wenig über diese Anrede, die sie umso tiefer traf, als sie ‘‘Ihm’’ so treuherzig und ganz ahnungslos von den Lippen kam. Sie bezwang sich, ruhig und unbefangen weiterzusprechen. „Ja, ich las einmal irgendwo: Der Erfinder, dem es gelänge, die Energie der Atome auch nur eines Kupferpfennigs freizumachen, würde schwerlich seine Erfindung überleben. An der Stelle, wo sein Laboratorium, ja vielleicht, wo die ganze Stadt gestanden hatte, in der er lebte, würde man nach dem gelungenen Versuch wohl wenig mehr als einen großen Sprengtrichter finden. Es gibt ernsthafte Forscher, die es für möglich halten, dass die Weltenkörper, die wir hin und wieder im Raum aufblitzen sehen, einer Katastrophe zum Opfer gefallen sind, an der ihre Bewohner die Schuld trugen, die ‘‘zu klug’’ geworden waren.“
Riemenschneider sah seine Schülerin sehr erstaunt an: „Und doch kamen sie zu mir, um mir zu helfen? Mit solchem Hintergrundwissen! Das nenne ich Mut!“
„ Das sind höhere Gewalten“, fiel Tess schnell ein, „die mich trieben.“
„ Die höchsten Gewalten tragen wir in uns selbst!“, sagte Riemenschneider wieder mit seinem seherischen Blick in die Ferne. „Wenn wir sie uns nicht verschütten!“
„ Lassen sie uns alle Spuren vernichten Herr Doktor, damit niemand diese gefährlichen Kräfte findet! Wehe, wenn sie einmal in die Hände von gewissenlosen Menschen fielen!“
Riemenschneider sah sich um und lächelte. „Zu vernichten ist wohl nichts mehr. Nur dieses Blatt verbrennen sie dort an der Gasflamme! Ich will inzwischen den Arzt anrufen, damit er sie verbindet.“
„ Ach nein, bitte keinen Arzt!“
„ Nun?“ Er sah sie prüfend an.
„ Herr Doktor, viel wichtiger ist, dass wir besprechen, was jetzt geschehen soll.“
„ Sie sind ein tapferes und kluges Mädchen. Es ist vielleicht ganz gut, wenn wir jetzt keinen Arzt hier hereinrufen. Es ist Verbandzeug hier, ich werde sie selbst verbinden.“
Tess beugte sich schnell nach den Scherben hinunter. Nur etwas tun, um – ach, wobei man rot werden durfte! Sollte denn alles Glück und alle Seligkeit heute über sie hereinbrechen? Sie kehrte tapfer zusammen, was er nicht leiden wollte. Sie ordnete, verwischte Spuren, auch ihre Blutspuren. Dann musste sie in dem einzigen Sessel sitzen und stillhalten und – ihre Augen im Zaum halten und – Gleichmut heucheln. Zwar verband Riemenschneider so ruhig, so sachlich und umsichtig, als ob er vor einem Ärztekollegium eine Prüfung ablegte, aber die Berührung seiner feinen, durchgeistigten Hände war so, dass man in ganz unerreichbare Höhen hinaufgetragen wurde, in denen alle Gedanken, alle Wünsche, alle Erinnerungen und alle Sorgen schwiegen, wo nur noch Verklärung und tiefstes Ahnen übrig blieben. Wie lange sie auf diesen Gipfelhöhen weilte, sie hätte es später nicht mehr sagen können, denn auch die Zeit war wesenlos geworden und dahingeschwunden.
Tess ging an den Bunsenbrenner, um das Blatt mit den verfänglichen Erklärungen und Zeichnungen zu verbrennen. Die blaue Flamme fächelte schon in die Luft, aber – sie brachte es nicht fertig. – O Schmach und Schande! Dieses Köstlichste, was ich je in der Hand gehabt habe! Nach zehn Jahren wird man vielleicht Tausende darum geben. Ich geb’s heute schon nicht mehr für Tausende her – sie sah sich spitzbübisch um. – Ach, ‘‘Er’’ zog gerade seinen Mantel an, als ob nichts geschehen wäre. Nein, als ob er schon wieder in Gedanken ganz wo anders wäre. Schnell zusammengefaltet und in die Tasche des weißen Kittels versenkt! Niemand hat’s gesehen.
Draußen traf sie Franz, den Treuen, der sie abholen wollte und stundenlang auf sie gewartet hatte. Große Angst hatte er um sie gelitten. So sollte sie erzählen, was los war.
„ Ach Franz, frag mich nicht! Nicht heute Nacht!“
„ Du bist verbunden? Ist etwas passiert?“
„ Passiert? Viel – sehr viel! Aber lass mich heute! Ich bin – ich weiß nicht – lass mich! Ich muss – nachdenken – viel überdenken. Wir sprechen morgen – später darüber. Ich komme dir verrückt vor, halb hin ich’s auch.“
Tief
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