Entfesselte Energien (Band 1)
vorüber. Eines Abends entdeckte Tess unten in der Platanenallee, zwischen den beiden Neckararmen ein sehr ungleiches Paar, das sich langsam lustwandelnd in die Tiefen des Parks verlor. Wenn auch die weitaus größere Aktivität bei der ‘‘Kleinen’’ zu beobachten war, die in tänzelndem Schritt bald ferner, bald sehr nahe an dem blonden Recken das in der Tanzstunde Gelernte zur Anwendung zu bringen suchte und – vielleicht noch manches darüber hinaus, so schien dieses anmutige Spiel dem ‘‘Eisbären’’ doch nicht übel zu gefallen. Was sollte man dagegen sagen! Aber Tess war ehrlich sich gegenüber und gestand sich ein, dass es ihr doch einen kleinen Stich gab. „Das ist meiner!“, sagte sie vor sich hin und nahm sich gleich darauf wieder lächelnd vor, ihn am nächsten Tage tüchtig damit aufzuziehen. Aber dann wurde sie sehr ernst bei dem Gedanken, dass solche, vielleicht ganz niedlich bleibenden Erotika denn doch nicht geeignet seien, stählerne Härte, wie sie ihre große Aufgabe einmal verlangen würde, in seiner Seele zur Entfaltung kommen zu lassen. „Unsere Kirche ist klug, viel klüger, als ihr andere alle zugestehen; sie wusste wohl, warum sie von ihren Dienern, die immer zum Äußersten und Höchsten bereit sein müssen, das vollkommene Zölibat verlangte. Wieder von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachtet erschien ihr die Sache dann doch wieder gar nicht so unvorteilhaft, mindestens in dieser Periode ihres Studienfreundes. „Erst mit Amor pflegen sich die Musen einzustellen“, sagten ja wohl die Alten und sie sollten, wie immer, so auch hier recht behalten. In den folgenden Tagen und Wochen konnte Tess beobachten, dass der Freund seine Kragen öfters wechselte, die Bügelfalten verschärfte und sogar in seinen Bewegungen weniger eckig und schartig war. Erst viel später sagte sie ihm mal kurz und unbetont: „Du! Weißt was? Erotika sind Narkotika! Schleifen die Messer der Seele stumpf.“
Er verstand sofort, wurde ein bisschen rot, dachte eine Weile nach, und nickte so, dass man sah, dies Samenkorn war auf guten Boden gefallen.
Endlich, nach sieben Wochen peinlichen Wartens kam die erlösende Nachricht aus Berlin; Riemenschneider schrieb kurz und herzlich an Tess, auch Lore hatte unterschrieben, sie hatten inzwischen geheiratet. Ein bisschen traurig war Tess, auf die Hochzeit wär sie so gespannt gewesen. Hatte man sie vergessen? Aber sie hatten die Hochzeit gewiss nur im engsten Kreise gefeiert, rauschende Feste lagen Riemenschneider ja nicht. Die Hauptsache war, dass das Werk jetzt begann. Spornstreich’s eilte sie zu Franz, der sogleich in die Höhe sprang vor Freude.
„ Und dann können wir reisen. Tess? Wirklich? Und du hast keine böse Nachricht von zuhause gekriegt?“
„ Nein. Du auch nicht?“
„ Nix! Gar nix! Juhu!“ Er wirbelte Tess durchs Zimmer. „Gleich fahren wir ab, du! Ja?“
„ Gleich! Gleich! Eh noch was kommen kann!“ Auch Tess war es zum Jubeln zumute.
Aber sie jubelte zu früh. Als sie die Straße hinauf ging, sah sie schon von Weitem ein graues Auto vor der Pension stehen. „Ach, um Gotteswillen! Das wird doch nicht!“
Natürlich war es Ullis Auto. Sie ertappte sich darauf, dass sie im Inneren ganz grimmig fluchte. Einen Augenblick lang ordneten sich ihre Gedanken zu einem bösen Entschluss: Sofort umkehren zu Franz, ihn hierher schicken. Tante Amelie möchte ihr das Abendessen eine Stunde später anrichten, sie sei noch im chemischen Institut. Bis ihr Bruder den Weg dorthin und zurück geschafft hätte, wäre sie, da ja die Koffer fertig gepackt waren, schon längst über alle Berge gewesen. Aber gleich darauf schämte sie sich, das gedacht zu haben, und eilte die Treppen hinauf.
Oben stand ihr Bruder mit einer wahren Leichenbittermiene. „Ulli? Bringst du schlechte Nachricht?“
„ Ja leider, Großmutter!“
„ Ist sie tot?“
„ Nein, aber es kann jeden Augenblick eintreten. Sie ruft immer nach dir, bitte, komm gleich mit!“
Tess seufzte tief auf. „Gerade wollten wir abreisen – nach Berlin. Ists wirklich so schlimm?“
„ Nach Berlin willst du?“ Ulli war ganz entsetzt. Er sah schlecht aus.
„ Hoffentlich hat er nicht mit dem Trinken angefangen“, fuhr es Tess durch den Sinn.
„ Nun komm!“, bettelte er wie ein kleiner Junge.
Tess überlegte. „Warte einen Augenblick!“ Schnell lief sie zur ‘‘Tante’’, gab ihr im Telegrafenstil die nötigen Anweisungen: „Großmutter krank – Muss erst nach Hause –
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