Entfesselte Energien (Band 1)
darüber sprechen. Man interessiert sich“ – das Folgende flüsterte er ihr ins Ohr – „in Berlin dafür. Wir werden nun auch bald nach Berlin übersiedeln müssen, lieb Mutterl.“
„ Mein Gott, Hermann! Ich soll in meinen alten Tage noch …“
Schnell hielt er ihr den Mund zu und winkte ernst ab. Er flüsterte weiter: „Es lässt sich leider nicht ändern, Mutter. Es tut mir ja auch sehr leid, aber es ist meine Pflicht. Du musst dir’s denken, es ist militärischer Dienst.“
„ Und immer musst de dort bleiwwe?“
„ Wie lange es dauert, weiß ich natürlich noch nicht, aber es scheint eine Lebensstellung für mich zu werden.“
Jetzt regte sich doch der mütterliche Stolz. „Hermannle, wer hädde des dacht! Wenn’s der Vadder noch erlebt hädde! – Und was wird erscht de Braud sage!“
Jetzt erst kam es auch ihm zum Bewusstsein, dass ihm eine große Ehre widerfuhr; er wurde ganz verlegen und suchte Zuflucht bei seinen geliebten Büchern.
Tess erwartete unterdessen den Major vor Riemenschneiders Haus.
„ Ah, da bist du schon, liebe Base! Lass uns noch schnell zu deiner Wohnung gehen!“
„ Reden sollten wir bereits unterwegs!“, rief Tess, „wie du’s mit ihm getan hast; meine Pensionsmutter lauscht wie ein Sherlock Holmes.“
Er lächelte. „Übrigens – willst du in Berlin bei uns wohnen? Du wirst ja doch ihm folgen, so wie ich dich kenne! Also sag ja!“
Tess lächelte. „Bei euch wohnen? Geht das denn? Was würde deine Frau dazu sagen?“
„ Ach, von Li geht’s ja aus. Habe ich dir das noch nicht bestellt? So ist es nur im Drange der Geschäfte unterblieben.“
„ Offen gestanden – ich komme gern zu euch, weil mich das einer gewissen Sorge befreit. Zuhause geht’s nämlich …“ sie machte eine ziemlich fatale Geste des Geldzählens.
„ Nicht gut? Ich wollte schon fragen, wagte es jedoch nicht.“
„ Es geht sehr übel! Du weißt ja, seit Vater tot ist, führt Ulli die Geschäfte – unter der Leitung der Großmutter. Das ging so lange ganz gut, als die Großmutter noch rüstig war, aber wie ich höre, ist sie seit einiger Zeit bettlägerig geworden und da hapert’s inzwischen an allen Ecken und Enden. Ulli kann den Kram nicht schmeißen.“
„ Das ist sehr schade!“
„ Mir graut immer davor, dass sie mich wieder …“
„ Zurückholen? Dich? Ausgeschlossen, Tess! Viel wichtiger ist …“
„ Ist dies! Das sehen sie aber nicht ein. Wie soll ich ihnen das klar machen? Meine Mutter schreibt eine Beschwörung nach der anderen. Ich halte sie mit Mühe so hin. Aber mir graut vor dem Telegramm, das jeden Tag kommen kann.“
„Dass die Großmutter … O Gott, ja, das ist eine furchtbare Lage für dich.“
„Lieber Leo, kannst du nicht mal …“
Der Major zog die Brauen und die Achseln in die Höhe. „Auf alle Fälle schicke mir ein Telegramm, wenn sie stirbt! Ich komme dann und – naja!? Ich will mein Möglichstes tun.“
8 . Kapitel
Das Semester ging zu Ende und Riemenschneider packte seine Sachen ein. Ganz Tübingen trauerte um ihn, die wildesten Gerüchte kreisten in der Stadt, obwohl man, dies voraussehend, in Berlin die Lösung gefunden hatte, ihm einen Lehrstuhl an der Universität anzubieten. Aber – die Tübinger sind immer ‘‘helle’’ gewesen; man wusste zwar nicht – und hatte es auch durch alles Fragen nicht herausgebracht – wer der geheimnisvolle graue Herr gewesen war, der ihren Riemenschneider von dem Sommerfest, von seinem Ehrentag weggeholt hatte. Aber dass er ihn weggeholt hatte, dass ihm das gelungen war, sagte schon genug. Und die Mienen dieses Herrn, die von Hunderten beobachtet worden waren, seine peinliche Diskretion, die geheimnisvolle Aura, die ihn sichtbar umgab – man riet gar nicht so weit daneben – ‘‘ein Herr aus dem Ministerium ist es doch zum Mindesten gewesen!’’ Geradezu ins Ungeheuerliche stieg der Respekt vor Riemenschneider; er durfte sich auf der Straße gar nicht mehr sehen lassen, wenn er nicht Spießruten laufen wollte zwischen hochgereckten Händen. Viele grüßten auch noch nach der alten Art, die ihnen vielleicht noch respektvoller erschien.
Nicht leicht war es für den so plötzlich berühmt gewordenen, mit seinen Mitarbeitern vor der Übersiedlung nach Berlin die letzten Verabredungen zu treffen, ohne dass es die ganze Stadt erfuhr. Am unverfänglichsten konnte man noch mit Ebersbach verkehren, der ja seit Jahren stets zusammen mit
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