Entflammt
auch diverse Hungersnöte hinter mir. Einmal in Südengland hatten wir zwar Kühe, die Unmengen Milch gaben, zugleich aber eine Missernte. Also tranken wir Milch, machten Käse, aßen Käse, verfütterten Käse an die Tiere - dieser Gestank! Ich habe die nächsten sechzig Jahre keine Milchprodukte mehr angerührt.«
Ich warf mir das Ende meines Halstuchs über die Schulter und setzte mich aufs Bett. Draußen war es plötzlich dunkel geworden. Ich hoffte nur, dass irgendjemand angefangen hatte, das Abendessen zuzubereiten, aber dann fiel mir wieder ein, dass es Rüben, Rote Bete und Grünkohl geben würde. Aber trotzdem fühlte es sich besser an, hier deprimiert zu sein, als nicht hier zu sein. In der Welt draußen zu sein. Verloren in meinen Erinnerungen. Wieder einmal fragte ich mich, was meine Freunde wohl über mein Verschwinden dachten. Suchten sie noch nach mir? War dieses Versteck hier wirklich sicher?
»Ich verstehe nicht, warum ich im Garten arbeiten soll«, sagte ich. »Ich will nur - einfach sein, ach, ich weiß nicht. Vielleicht will ich gerettet werden oder so. Sag mir, was ich tun soll, und ich tue es. Aber ich begreife nicht, was Gartenarbeit damit zu tun hat.« Ich rieb meine sauberen Hände an der Hose, denn sie juckten noch immer von dem Dreck. River dachte einen Moment lang nach und ihr elegantes Profil hob sich gegen die Dunkelheit draußen ab. Ich stand auf und zog die schweren Wintervorhänge zu. Die Fensterscheibe verströmte Kälte.
»Unsterblichen vergeht die Zeit sehr schnell«, sagte sie schließlich. »Weißt du noch, wie lang dir als Kind jeder Tag vorkam, und dass jedes Jahr bis zu deinem nächsten Geburtstag eine Ewigkeit zu dauern schien? Und als du dann älter wurdest, verging die Zeit schneller. Erinnerst du dich daran?« Da ich es nach Möglichkeit vermied, an meine Kindheit zu denken, schüttelte ich den Kopf. »Nein.«
»Nun, so empfindet es fast jeder«, sagte River ungerührt. »Das liegt daran, dass ein Jahr für eine Zehnjährige gigantische zehn Prozent ihrer gesamten Existenz 'sind. Und wenn man sich nicht mehr an die ersten zwei oder drei Jahre erinnert, ist ein Jahr ein noch größerer Teil des bisherigen Lebens. Verstehst du das? «
»Schätze schon. Aber der Garten -«
»Wenn du vierzig bist, ist ein Jahr nur noch ein Vierzigstel deiner gesamten Existenz. Und so scheint jedes Jahr schneller zu vergehen und weniger bedeutsam zu sein. Ergibt das einen Sinn für dich?«
»Ja, irgendwie schon«, sagte ich.
River war so geduldig, wie es nur ein fast 1300 Jahre alter Mensch sein konnte. Ihr warmer, klarer Blick ruhte auf mir. »Wenn du aber unsterblich bist, fühlt es sich an, als würdest du nach vorn schauen - ins Vergessen. Oder schlimmer, du erkennst, dass du vermutlich auch im Jahr 2250 noch leben wirst, und das macht dich starr vor Angst, weil du keine Ahnung hast, wie es dann sein wird. Wenn du unsterblich bist, verlieren die Jahre schnell an Bedeutung. Jahre, Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte ziehen so schnell an dir vorbei, dass dir so etwas wie das siebzehnte Jahrhundert plötzlich nur noch vorkommt wie eine schlechte Party, auf der du malwarst.«
Ich zupfte am Ende meines Schals herum und sagte nichts. »Wegen der relativen Länge unseres Lebens verlieren viele Dinge an Bedeutung oder gehen vor diesem Hintergrund ganz verloren«, fuhr River fort. »Wie viele Beziehungen hast du gehabt? Wie viele Kinder? Wie viele Menschen hast du geliebt, die jetzt tot sind? Für normale Leute sind solche Ereignisse einschneidend und formen oder verändern ihr ganzes Leben. Für uns sind sie nur ein Blinzeln. Und doch haben sie Auswirkungen auf uns. Stück für Stück stumpfen wir mit jedem Verlust, den wir erleiden, ein bisschen mehr ab. Wir haben schon so oft so viel verloren, dass die meisten Dinge, die meisten Leute, die meisten Erfahrungen für uns keinen Wert mehr haben, keine Bedeutung. Wir vergessen, wie man Dinge würdigt, wie man sie fühlt. Wir vergessen, wie man liebt.«
Alles klar. Stoff zum Nachdenken. Etwas davon kam mir unangenehm bekannt vor.
»Was wir hier machen«, erklärte River, »ist ein Crashkurs, in dem du wieder lernst, die Bedeutung einzelner Momente, einzelner Minuten zu würdigen. Du wirst die Fähigkeit erlangen, jeden Augenblick bewusst wahrzunehmen und im Hier und Jetzt zu leben. Du wirst wieder lernen, etwas zu spüren, den Wert von etwas zu schätzen. Und du wirst
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