Entflammt
fuhr herum und rannte die breite Treppe hinunter. Wir waren ihr so dicht auf den Fersen, dass uns ihre Haare ins Gesicht wehten.
Gebrüll und Getrampel erklangen, als wir das Erdgeschoss erreichten. Es waren Fadirs Männer in ihren schweren Lederrüstungen, bewaffnet mit Schwertern und Bogen. Wir drückten uns eng an die Steinmauern, als sie vorbeirannten und Fadir ihnen Befehle zubrüllte. Einer nach dem anderen stürmten sie die enge Hintertreppe hinunter, die spiralförmig gegen den Uhrzeigersinn verlief. Sigmundur hatte mir und Háakon erklärt, wie genial diese Konstruktion war: Wer hinunterlief, um die Burg zu verteidigen, hatte genügend Platz für seinen Schwertarm, um die Eindringlinge zu besiegen.
Die Angreifer dagegen, die von unten kamen, hatten kaum Bewegungsfreiheit und mussten eine unnatürliche Kampf-haltungeinnehmen.
Und wieder ertönte das gewaltige Dröhnen, das Beben.
Staub rieselte von den Steinen über unseren Köpfen und brachte mich zum Niesen.
»Moöir, was ist passiert?« Der siebenjährige Háakon war die letzten zwei Wochen krank gewesen, mit Schüttelfrost und Fieber. Jetzt sah er dünn und blass aus und hatte bläu-liche Ringe unter den Augen.
Die Außenmauer ist durchbrochen worden«, flüsterte meine Mutter mit Entsetzen und führte uns auf Vaters Stu-dierzimmer zu. »Krieger aus dem Norden.«
Eydís und ich sahen uns mit großen Augen an. Wieder er-tönte das Donnern und Tinna nahm meine Hand. »Ein Rammbock«, hauchte sie.
Als wir durch den Flur rannten, stieß meine Mutter die Fackeln aus ihren eisernen Wandhaltern. Sie fielen zu Boden und erloschen in einem Funkenregen. Hinter uns breitete sich die Dunkelheit aus.
Wir erreichten Vaters Zimmer. Drinnen drehte meine Mutter den großen Messingschlüssel um und legte zusammen mit Sigmundur den schweren Balken vor die Tür. Meine Schwestern, Háakon und ich drängten uns am Kamin zusammen, während meine Mutter an Vaters großen Schrank ging und ihn mit zitternden Fingern aufschloss. Sobald die Türen offen waren, trat Sigmundur vor und nahm das größte Schwert aus seiner Halterung. Es war ein gutes Stück größer als ich, ganz gerade, beidseitig geschliffen und hatte einenschlichten, mit dünnen Lederstreifen umwickelten Holzgriff. Meine Mutter sah die Waffen einen Moment lang an und wählte dann eine für Tinna. Die Arme meiner Schwester bogen sich unter ihrem Gewicht. Eydís war die Nächste - mit zwölf hatte sie schon sechs Jahre Waffenschule hinter sich, aber wir benutzten meistens kleinere Dolche und taten nur so, als wären es Schwerter. Ich war zehn und hielt meiner Mutter die Hände hin. Nach einem Moment des Zögerns gab sie mir ein kurzes Schwert, vielleicht vierzig Zentimeter lang. Ich ergriff es mit beiden Händen, aber so richtig verstanden hatte ich noch nicht, was gerade passierte. Sogar Háakon bekam einen Dolch, den er mit großen Augen ansah. »Wo ist Fadir?«, fragte Sigmundur. Er eilte ans Fenster undspähte durch den schmalen Schlitz.
»Unten bei den Männern. «
»Nimmst du dir auch ein Schwert, Moöir?«, fragte Haakon, der immer noch seinen Dolch bewunderte.
»Ich habe etwas Wirksameres.«
Moöir griff unter den Kragen ihres Nachthemds und holte das schwere Amulett heraus, das ich mir immer so gern ansah. Immer wenn ich auf ihrem Schoß saß, hielt ich es in den Händen und betrachtete es, aber sie nahm es niemals ab und ich durfte es mir nie umlegen. Es war rund, ungefähr so groß wie mein Handrücken, mit einem flachen, milchig schimmernden Stein in der Mitte, der ungefähr vier Zentimeter Durchmesser hatte. Rund um den Stein waren Symbole eingraviert. Einige gehörten zu unserem Alphabet. Es waren Runen, die ich kannte, aber auch welche, die mir nichts sagten. Ich hatte sie einmal gefragt, woraus das Amulett be—stand, und sie hatte geantwortet: Gold. Gold und Macht. Und jetzt nahm sie es in beide Hände. Als ein weiterer Aufprall das Zimmer erschütterte, schloss sie die Augen und be gann zu singen.
***
Ich wachte keuchend auf. Kalter Schweiß lief mir übers Gesicht. Mein Nacken brannte und ich riss das dünne Tuch herunter, mit dem ich schlief, und fuhr mit den Fingern über die vernarbte Haut.
Diesen Traum hatte ich schon lange nicht mehr gehabt. Ich schüttelte den Kopf, immer noch außer Atem. Dann stand ich mit weichen Knien auf und ging ins Bad, wo ich mir kaltes Wasser ins Gesicht spritzte. Es war natürlich kein
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