Enthuellung
eine Sammlung dieser Motive auf Papier gezeichnet. Dies ist das erste auf Leinwand.« Jede Spur von Leichtigkeit, die ich an Chris so mag, verschwindet, und aus seiner Stimme klingt heftiges Unbehagen heraus. »Ich glaube, er mag Horrorfilme, weil er versucht, mutig zu wirken. Aber ich sehe die Furcht in seinen Augen. Er will nicht sterben.«
Seine Worte rieseln mir über den Rücken wie eiskaltes Wasser, und ich leide mit diesem Mann, von dem ich so viel mehr lerne als Schmerz und Wonne. »Du weißt hoffentlich, dass du ihm hilfst, diesen Abschnitt seines Lebens leichter zu machen.«
»Aber ich werde den Eltern den Schmerz über seinen Verlust nicht ersparen können.«
Auf einmal wird mir etwas glasklar. Ich verstehe, woher sein tiefes Bedürfnis kommt, sich in dieser Wohltätigkeitsorganisation zu engagieren. Chris versucht, das, was ihm in der Kindheit widerfahren ist, wettzumachen, sei es unterbewusst oder vielleicht, eingedenk meines Wissens über ihn, bewusst. Das ist eine erstaunliche Erkenntnis, aber ich sorge mich darum, wo der Schmerz ihn hintreibt. Wird ihn dieser Schmerz zusammen mit dem Päckchen, das er mit sich herumträgt, an den Rand einer Katastrophe bringen?
Einige Minuten später beenden wir unser Gespräch, und ich lege mich auf den Boden und starre zu den winzigen weißen Sternen empor, die an die Decke gemalt sind. Aber ich sehe das Bild vor mir und habe Chris’ Behauptung im Ohr, dass es ein Symbol für Vertrauen sei. Er hat mich gefragt, ob es mir Angst mache. Könnte es sein, dass dieser mächtige, selbstbewusste, talentierte Mann selbst Angst hat? Und wenn ja, wovor?
Es ist Morgen, und mein Arbeitsbeginn in der Galerie um neun Uhr erscheint mir nach einer zweiten Nacht ohne Schlaf viel zu früh, trotz aller Liebe zu meinem neuen Job. Glücklicherweise ist Mark nicht so pünktlich, und meine mehrfachen Stopps an der Kaffeekanne verlaufen ohne Herrengesellschaft.
Um zehn Uhr bin ich fahrig und bei Tasse Nummer drei, aber meine Glieder sind immer noch schwer. Der »Meister
«
ist noch nicht aufgetaucht. Ich gehe Informationen über Alvarez durch, um mich auf die abendliche Zusammenkunft vorzubereiten, als eine E-Mail von Mark kommt und beweist, dass er doch nicht lange geschlafen hat. Aber vielleicht ist er auch gerade erst aufgestanden. So oder so, die Mail ist kurz und süß. Ich schnaube. Mark ist alles andere als »süß«.
Er hat mir einen Spickzettel mit Themen und Antworten geschickt, die sich um Wein, Opern und klassische Musik drehen und mir erlauben, meine Kundschaft zu beeindrucken. Die Informationen sind tatsächlich ziemlich gut, und ich frage mich, warum er mir das Blatt nicht gleich gegeben hat, statt darauf zu bestehen, dass ich mir in rekordverdächtiger Zeit profundes Wissen über diese weitläufigen Themen aneigne.
Mir fällt der Tagebucheintrag ein, den ich noch schnell gelesen habe, bevor ich die Tagebücher in den Safe eingeschlossen habe.
Ich frage mich, wie es sich anfühlen würde, wenn wieder Leidenschaft die Triebfeder meines Lebens wäre, statt mich nur zu fragen, wie das neue Spiel aussehen wird.
Ich will kein Spielball für Mark sein, und ich hoffe, diese neue Arbeitsanweisung bedeutet für mich, dass ich ihm das klargemacht habe.
Um halb elf habe ich mir die Informationen von Mark durchgesehen und halbwegs eingeprägt und drei weitere Male versucht, Ella zu erreichen, aber ich bekomme wieder nur dasselbe Besetztzeichen. Also rufe ich wieder in Davids Praxis an und bin enttäuscht, dass auf meine Nachricht auf dem Anrufbeantworter mit der Bitte um Informationen keine Reaktion erfolgt. Hinzu kommt, dass ich noch nicht mit Chris geredet habe, und ich habe keine Ahnung, warum mich das stört. Es ist nicht so, als müsste er mich anrufen, wenn er seinen Tag beginnt, und wieder denke ich, dass er vielleicht hofft, dass
ich
ihn anrufe. Aber vielleicht würde er denken, ich sei aufdringlich. Ich bin ein Nervenbündel, als Mary an meine Tür kommt und so bleich aussieht wie ihr blondes Haar und mein weißes Kostüm. Sie schaut mich feindselig an.
»Sie kommen nicht zu dem Event heute Abend?«
»Ich habe ein Treffen außer Haus.«
»Und ich habe Grippe. Was ist, wenn ich nicht bleiben kann?«
Mary ist zwar immer ziemlich ruppig mir gegenüber, aber feindselig war sie noch nie. Ich lege die Stirn in Falten. »Ich treffe mich mit Ricco Alvarez wegen eines großen Verkaufs. Ich würde umdisponieren, wenn ich könnte, aber ich bin mir nicht sicher, ob er
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