Entrissen
warteten darauf, dass die Mörderin ihres Kollegen endlich auspackte. Phil war sich des Drucks, der auf ihm lastete, nur allzu bewusst.
»Suchen Sie weiter«, sagte er. »Ich versuche in der Zwischenzeit, einen richtigen Nachnamen aus ihr herauszubekommen.« Er seufzte. »Selbst wenn ich es schaffe und wir eine Adresse finden, ist das keine Garantie, dass er das Baby auch tatsächlich dort festhält. Aber es wäre immerhin ein Anfang.«
»Ich brauche einfach nur einen Namen«, sagte Anni. »Damit ich einen Anhaltspunkt habe.« »Ich tue, was ich kann.«
»Und wir wissen immer noch nicht, wer der Typ auf dem Foto ist. Ihr Bruder? Oder der Vater?«
»Das kriege ich schon noch heraus«, sagte Phil und klang zuversichtlicher, als er sich fühlte. Wieder musterte er Sophie, dann nahm er den Becher Tee, den er ihr bringen wollte.
»Drückt mir die Daumen«, sagte er in die Runde.
Anni wünschte ihm Glück. Sie sah zu Tode erschöpft aus und schien mit jeder Stunde des Tages um ein Jahr gealtert zu sein. Phil lächelte sie aufmunternd an und verließ den Raum.
Auf dem Gang blieb er vor dem Vernehmungsraum kurz stehen. Er lehnte sich gegen die Wand, den Becher mit Tee in der Hand. Er holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. Noch einmal: einatmen, ausatmen.
Also,
versuchte er sich Mut zu machen.
Geh jetzt da rein und führ das Verhör deines Lebens.
Phil schaltete das Tonbandgerät ein.
»Vernehmung wieder aufgenommen um ...« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, nannte die Zeit und alle anderen Formalitäten. Schob Sophie den Becher hin und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Sie legte beide Hände um den Becher und trank mit geschlossenen Augen.
»Also«, begann er, sobald sie den Becher wieder abgestellt hatte. »Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja. Sie hatten mir von Ihrem Bruder erzählt. Und von Ihrem Vater.«
Ein flüchtiges Lächeln war auf ihrem Gesicht zu sehen, machte dann aber etwas Dunklerem Platz.
»Heston, richtig?«
Sie nickte.
»Heston Johnson?«
Sie runzelte die Stirn und sah ihn verwirrt an.
»Johnson. Ihr Nachname. Hat er denselben Nachnamen wie Sie?«
Sie schüttelte den Kopf. »Mein Nachname ist nicht Johnson.«
»Dann eben Gale.«
Sie wurde nachdenklich.
Sie überlegt, ob sie lügen soll oder nicht,
dachte Phil.
»Also, wie ist dann Ihr richtiger Name?«
Sie zögerte, und ein verschlagener Ausdruck trat in ihre Augen. »Wenn ich es Ihnen sage, fahren Sie doch sofort hin. Ich kann es Ihnen nicht sagen.«
Phil zuckte mit den Schultern. Er versuchte so zu tun, als sei die Angelegenheit nicht weiter wichtig. »Auch egal. Früher oder später finden wir es sowieso heraus. Wie auch immer, ich möchte mehr über Ihren Vater erfahren. Und über Ihren Bruder.« Er verfiel wieder in den eindringlichen, mitfühlenden Tonfall von vorhin. Dazu lehnte er sich vertraulich über den Tisch, als teilten sie ein Geheimnis miteinander. »Sie haben mir erzählt, was Ihr Vater mit Ihrem Bruder gemacht hat. Und wie sehr es ihm zuwider war.«
Er beobachtete ihr Gesicht, sah die Qual und den Schmerz darin. Sie zu bitten, von diesen Ereignissen zu erzählen und sie somit noch einmal erleben zu müssen, war grausam - als würde man ein Kind in einen Raum sperren, in dem sein schlimmster Alptraum wartete. Einen kurzen Moment lang empfand er echtes Mitleid. Doch dann rief er sich ins Gedächtnis, dass sie seinen Detective Sergeant ermordet hatte, und spürte, wie Hass wieder in ihm hochkam und jegliches Mitgefühl verdrängte. An diesen Hass hielt er sich. Er gab ihm die Kraft weiterzumachen.
»Er ... Heston fand es furchtbar ...«
»Das sagten Sie bereits. Was hat er denn dagegen gemacht? Hat er sich gewehrt? Ist er abgehauen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das konnte er nicht. Er war nicht stark genug. Er hat es einfach ... über sich ergehen lassen.« Sie seufzte. »Bis ... bis er irgendwann nicht mehr konnte.«
»Er hat sich umgebracht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wäre vielleicht das Einfachste gewesen. Nein. Er ... er hatte ein Kleid an. Er hatte gerade ... gerade die Bedürfnisse unseres Vaters befriedigt. Er wollte ihm gefallen. Aber unser Vater hat ihn geschlagen, verprügelt und gequält. Hat schreckliche Dinge zu ihm gesagt, ganz schreckliche Dinge...«
Sie blickte in ihren Teebecher, hob ihn aber nicht an den Mund. Phil wartete.
»Er hat mir das später erzählt. Heston. Er ist in die Küche gekrochen. Er konnte nicht laufen, er hat geblutet wegen ... wegen dem,
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