Entrissen
die Gelegenheit, um sich unter ihm hervorzuwinden. Sie sprang auf, stürzte zur Tür und versuchte, den Schlüssel im Schloss herumzudrehen, doch ihre Hände zitterten so sehr, dass sie ihn nicht richtig zu fassen bekam. Stattdessen begann sie, wie wild gegen die Tür zu trommeln.
»Hilfe! Helft mir! So hilf mir doch jemand! Hilfe!«
»Nein ... nicht... hören Sie auf... bitte ...« Martin Fletchers Stimme war auf einmal heiser und winselnd. Er hockte noch immer auf dem Fußboden und rieb sich den Kopf an der Stelle, wo ihn das Telefon getroffen hatte. Aus einer Platzwunde begann Blut zu sickern.
Marina beachtete ihn nicht, sondern schrie aus Leibeskräften weiter.
»Nein, bitte nicht...«
Sein Zorn war verraucht, geblieben war nur noch diese zitternde, ängstliche Stimme. Sie drehte sich zu ihm um. Einmal mehr regte sich die Psychologin in ihr.
»Sie haben Ihre Macht verloren, Martin. Ich habe keine Angst mehr vor Ihnen ...«
Er kroch von ihr fort, kauerte sich in einer Ecke des Zimmers zusammen und bedeckte den Kopf schützend mit den Händen.
Da ertönte lautes Pochen an der Tür.
»Phil!«, schrie Marina, so laut sie konnte. »Ich bin hier drin!«
Mehrere Stimmen drangen gedämpft durch das dicke Holz der Tür. Sie gaben Marina neue Kraft, und endlich gelang es ihr, den Schlüssel herumzudrehen.
Die Tür wurde aufgerissen. Draußen standen zwei Austauschstudenten mit einem Mann von der Putzkolonne. Keine Spur von Phil.
Sie drehte sich erneut zu Martin Fletcher um. Der war inzwischen aufgestanden und versuchte, aus dem Fenster zu klettern.
Marina wollte auf ihn zustürzen, aber er brüllte ihr etwas zu, das sie jäh innehalten ließ.
»Bleib, wo du bist, oder ich springe!«
Marina gehorchte. »Kommen Sie, Martin, seien Sie nicht dumm. Sie werden sich das Genick brechen, wenn Sie von hier oben springen. Wollen Sie sich umbringen?«
»Ich hätte nicht herkommen sollen ...« Martin Fletcher schluchzte. »Das ist alles meine Schuld. Nur meine Schuld. Ich hätte niemals herkommen dürfen ...«
»Das ist doch alles halb so schlimm, Martin. Kommen Sie ins Zimmer zurück, dann können wir in Ruhe darüber reden ...« Stück für Stück schob sie sich näher an ihn heran.
Er zog sich weiter auf die Fensterbank zurück. »Ich hab gesagt, stehenbleiben!« Marina erstarrte.
»Mein Leben ist vorbei. Endgültig vorbei. Ich muss ins Gefängnis, und da steckt man mich mit Vergewaltigern und Kinderschändern zusammen ...«
»Martin ...«
»Sagen Sie Gemma, sagen Sie Gemma ... ich habe sie geliebt ...«
»Martin, nicht!«
Ihre Worte verhallten ungehört. Er war gesprungen.
»Noch fünf Minuten, dann ist das Essen fertig!«
Tonys Ankündigung holte Marina jäh in die Gegenwart zurück. Sie murmelte eine Antwort und leerte ihr Glas.
Das war das Ende gewesen. Martin Fletcher war bei seinem Sprung aus dem Fenster ums Leben gekommen. Und Phil war nicht da gewesen, um ihr zu helfen. Um sie zu retten. Sobald er gehört hatte, was passiert war, hatte er versucht, sich mit ihr in Verbindung zu setzen. Sie hatte seine Anrufe nicht entgegengenommen. Kurz darauf hatte sie festgestellt, dass er versucht hatte, sie anzurufen, als ihr Handy ausgeschaltet gewesen war. Er hatte ihr auf die Mailbox gesprochen, dass er später käme oder es schlimmstenfalls gar nicht schaffen würde. Ein Mord sei geschehen, und er sei an den Tatort gerufen worden.
Aber das machte es in ihren Augen nicht besser. Nichts führte an der simplen Tatsache vorbei, dass sie ihn gebraucht und er sie im Stich gelassen hatte. So einfach war das.
Sie konnte nicht anders empfinden. Es war das italienische Erbe in ihr, dem sie nicht entkommen konnte. Wenn ein Mann einer Frau versprach, für sie da zu sein, dann musste er dieses Versprechen auch halten. Ohne Wenn und Aber. Und wenn er es nicht hielt, wenn er sie im Stich ließ, dann hatte sie jedes Recht, wütend auf ihn zu sein.
Über eine Woche lang schreckte sie nachts schreiend aus dem Schlaf hoch, und jedes Mal war Martin Fletchers Gesicht das Letzte, was sie vor dem Aufwachen sah. Tony kümmerte sich rührend um sie. Der liebe, verlässliche Tony. Er war ein wahrhaft guter Mensch, jemand, der immer zur Stelle war, wenn sie ihn brauchte.
An die Universität wollte sie um keinen Preis zurück. Nicht nach dem, was dort passiert war. Also hatte sie ihren Lehrauftrag an den Nagel gehängt und sich selbständig gemacht.
Dann hatte sie festgestellt, dass sie schwanger war. Tony hatte damit kein
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