Entrissen
Problem. Im Gegenteil, er freute sich auf das Kind. Falls sie gedacht hatte, dass für ihn ein Kinderwagen im Flur das Ende der Romantik zwischen ihnen bedeutete, war sie im Irrtum. Andererseits war Tony ohnehin kein besonders romantisch veranlagter Mensch. Auch dass ein Baby ihn in seiner Freiheit einschränken würde, machte ihm nichts, da er so gut wie nie ausging.
Dementsprechend war er derjenige, der streng darüber wachte, dass sie keinen Tropfen Alkohol mehr trank. Er hatte Vorschläge gemacht, wie man das Arbeitszimmer im ersten Stock zum Kinderzimmer umfunktionieren könne, hatte Farbkombinationen für die Tapete und sogar Motive für Wandbilder ausgesucht. Er war sogar so weit gegangen, einen Katalog aus dem Babyfachgeschäft zu besorgen und sie nach ihrer Meinung zu verschiedenen Kinderwagenmodellen zu befragen. Oft wünschte sie sich, sie könne die Zeit ihrer Schwangerschaft so genießen wie er. Stattdessen fühlte sie sich bloß verunsichert und niedergeschlagen.
Einmal hatte sie Phil danach noch gesehen. Er hatte auf sie gewartet, als sie an einem ihrer letzten Tage an der Universität aus ihrem Büro gekommen war. Sie hatte ihn hinter einer Säule lauern sehen und war sofort in die andere Richtung gegangen. Er war ihr hinterhergekommen.
»Marina, bitte ...«
Sie lief schneller.
»Bitte ...«
Doch sie war einfach weitergegangen, ohne ihn zu beachten. Irgendwann war ihm klar geworden, dass seine Worte an ihr abprallten. Er war stehengeblieben und hatte sie laufen lassen. Hinaus aus seinem Leben.
Als sie um die nächste Ecke gekommen war, hatte sie sich plötzlich in einem menschenleeren Teil des Campus wiedergefunden. Dort hatte sie sich gegen eine Wand gelehnt und hatte sich die Seele aus dem Leib geschluchzt.
Irgendwann war sie dann nach Hause gefahren. Tony hatte gerade irgendeine politische Talkshow im Fernsehen gesehen. Sie war an ihm vorbei nach oben gegangen und hatte sich ins Bett gelegt. Das war das Ende von ihr und Phil gewesen.
Bis zu Ben Fenwicks Anruf.
»Ich tue jetzt die Nudeln auf!«, rief Tony aus der Küche.
Marina rief zurück, sie komme gleich. Wieder sah sie auf den sich träge dahinwälzenden Fluss hinaus. Sie dachte an die toten Frauen und an das verschwundene Baby. Und an Phil. Vergeblich versuchte sie, ihn aus ihrem Kopf zu verbannen. Aber da war er. Seine Augen blickten direkt in ihre.
»Hab ich noch Zeit für eine Dusche?«, rief sie.
»Na ja, eigentlich ist das Essen jetzt fertig ...« Tony kam ins Wohnzimmer und sah sie forschend an. Sah, wie müde und abgespannt sie war. Lächelte. »Schon gut, geh ruhig duschen. Ich halte es so lange warm.«
Sie rang sich ein Lächeln ab und machte sich auf den Weg die Treppe hinauf ins Bad, während sie krampfhaft versuchte, die widersprüchlichen Gefühle zu ignorieren, die in ihr tobten.
Ihr Arm lag die ganze Zeit über ihrem Bauch.
31
Gewaltsam hielt er die Henne auf dem quadratischen Holzblock fest. Die Augen des Tiers waren weit aufgerissen, der Schnabel war geöffnet, aber sie hatte so viel Angst, dass sie still war. Sie konnte nicht um Hilfe schreien, also lag sie einfach nur da, während die schwere, schwielige, schmutzverkrustete Hand sie unerbittlich niederdrückte.
Das Holz war nach Jahren des Gebrauchs von zahlreichen Hieben zerfurcht und fleckig von Blut.
Die Henne sah auf und schlug ein letztes Mal mit den Flügeln, dann lag sie still in Erwartung ihres Schicksals. Die Klinge des Beils sang in der kalten Morgenluft, durchschnitt Federn, Haut, Fleisch und Knochen und landete schließlich mit einem dumpfen Aufprall im Holz. Blut gurgelte aus der Wunde, der Kopf der Henne rollte zur Seite. Schwarze Augen starrten blicklos in den Himmel. Der Körper des Tiers zuckte noch ein paar Mal wie unter Strom. Die Hand hielt ihn weiter fest, so lange, bis die Zuckungen verebbt waren.
Danach wischte er sich die Hände an seinem langen Mantel ab. Das Blut hinterließ glänzende Schlieren auf dem dunklen Stoff. Bald schon würde es tief ins Gewebe einziehen und sich dort mit anderen, älteren Flecken verbinden.
Er richtete sich auf und sah sich um. Das Haus stand an der Mündung des Flusses, nicht weit vom sandigen Ufer entfernt.
Das Wasser wälzte sich träge in Richtung Meer, es schimmerte glatt und ölig im Licht des frühen Morgens. Die Landschaft war flach und trist. Marschland ging in einen sandigen Uferstreifen über, dann kam der Fluss und schließlich das Meer. Jetzt im Spätherbst waren die Bäume dürr
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