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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tania Carver
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anderen Schmerzen, die in ihrem Innern tobten? Sie drückte fester zu. Spürte, wie unter der Klinge aus einem Schnitt Blut tropfte. Es kitzelte, mehr nicht. So etwas konnte man nicht als Schmerz bezeichnen. Nicht wirklich. Nicht im Vergleich zu den anderen Schmerzen.
    Sie spürte, wie ihre Hand zwischen ihre Beine griff, das Ding packte und langzog, immer länger ...
    Wild schaukelte Hester hin und her. Das Schluchzen und das Zittern wollten nicht aufhören.
    Sie zog und zerrte, so weit es ging ... sie wollte, dass es zu Ende war, hoffte und betete, dass der Schmerz aufhören würde, sobald sie das hier getan hatte ...
    Bring es hinter dich ...
    Und dann, mit der Erkenntnis, dass nichts schlimmer sein konnte als das, was sie im Augenblick erlebte, nahm sie das Messer in die andere Hand und stieß rasch zu.
    Doch es war schwieriger, als sie gedacht hatte, nicht so einfach zu schneiden. Aber sie machte weiter, schnitt vor und zurück, vor und zurück. Der Schmerz war unendlich viel schlimmer, als sie erwartet hatte. Und das Blut, da war so viel Blut...
    Sie hatte das Gefühl, jeden Augenblick ohnmächtig zu werden. Aber das ging nicht, das durfte sie nicht. Sie sah an sich herab - noch immer nicht fertig. Dieses verhasste Stück, blutig und verstümmelt, baumelte immer noch an ihrem Körper. Mit neuem Zorn setzte sie wieder das Messer an.
    Ein weiterer Blutschwall.
    Und dann, endlich, war es ab.
    Sie hielt es in der Hand, und mit einem Mal wirkte das widerliche Stück Fleisch klein und harmlos. Ein verschrumpelter Fetzen, mehr nicht.
    Hester hatte damals gelächelt, ob vor Erleichterung oder weil der Schmerz endlich nachließ, das wusste sie nicht mehr. Aber sie wusste, dass sie gelächelt hatte.
    Bevor sie ohnmächtig zusammengebrochen war.
     

32
     
    Als Hester die Augen aufschlug, stand sie vor dem Babybett und betrachtete das tote Baby. Der Nebel in ihrem Kopf lichtete sich allmählich.
    Sie stand da und wartete darauf, dass ihr Mann kam.
    Was zum Teufel ist jetzt wieder los mit dir, Weib? Was stehst du da rum?
    Hastig wischte sie sich über die Augen und verscheuchte die letzten Reste ihrer Erinnerung. Auf keinen Fall sollte er wissen, dass sie wieder
daran
gedacht hatte. Alles, nur das nicht.
    »Das ... das Baby ...«
    Was ist damit?
    »Es ...« Sie musste sich zusammenreißen. Die bösen Erinnerungen vergessen. Sie zog die Hände zwischen ihren Schenkeln hervor und zeigte auf die Wanne. »Es ist gestorben ...«
    »Es ist tot«, wiederholte sie, als er nicht reagierte.
    Das sehe ich.
    »Und ... was machen wir jetzt?«
Es begraben.
    Also begrub sie es. Sobald es Zeit zum Aufstehen war, kletterte sie aus dem Bett und hob den inzwischen kalten, steifen Körper aus der Wanne. Sie trug ihn nach draußen und holte einen Spaten. Es war Knochenarbeit. Der hartgefrorene Boden ließ sich nur mit der Spitzhacke bearbeiten. Wieder und wieder schwang sie die Hacke, bis sie den Boden genug gelockert hatte, um ein flaches Grab schaufeln zu können.
    Als sie fertig war, stand sie eine Weile da und sah auf das Loch im Boden herab, in das die fahle Morgensonne einen flachen Schatten warf. Dann sah sie sich um. Hester und ihr Ehemann waren weit und breit die einzigen Menschen an diesem öden Uferstreifen. Sie legte die Spitzhacke beiseite und hob den winzigen Körper vom Boden auf. Der Himmel hing grau und schwer über ihr, und sie hatte das Gefühl, als wolle er sie niederdrücken, bis sie zusammen mit dem Baby unter der Erde verschwunden war.
    Sie wickelte das Baby aus der Decke, in der es gelegen hatte, kniete nieder und legte den kleinen Körper in das Loch.
    Als sie aufstand und herabsah, regte sich etwas in ihr. Wieder war da diese Leere, dieser seltsame dumpfe Schmerz in ihrem Innern. Er schien in ihr anzuwachsen, sich in ihrer Brust zu sammeln. Sie legte den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund. Heraus kam ein Klageschrei, so schmerzerfüllt und herzzerreißend, dass er sogar ihr Angst machte. Er klang wie der Schrei eines verwundeten, in die Ecke gedrängten Tieres, das nicht mehr kämpfen konnte und wusste, dass es bald sterben würde. Sie schrie immer weiter, den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen. Sie schrie und schrie.
    Sie wusste nicht, wie lange sie dort so stand. Die Zeit schien sich für Hester zu dehnen, dann wurde sie flüssig und strömte davon. Irgendwann, endlich, verfestigte sie sich wieder, und Hester schlug die Augen auf. Ihr Schrei war verstummt, ihre Kehle brannte. Sie fühlte sich

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