Entrissen
und kahl und sahen aus wie Knochenskulpturen, mit dunklem Blut in den Himmel gemalt.
Er legte das Beil beiseite und schloss die Augen. Alles war anders an diesem Morgen. Denn Hester war keine Mutter mehr.
Sie hatte nachts die meiste Zeit wach gelegen und das Baby betrachtet. Es war faszinierend anzusehen, wie sein winziger Brustkorb sich hob und senkte, seine Fäustchen sich öffneten und schlossen, als griffen die Finger nach unsichtbaren Kreaturen. Engeln vielleicht oder Dämonen. Hin und wieder verzog sich sein Gesicht, und der Mund machte zuckende Kaubewegungen. Es wirkte wie aus einem Disney-Cartoon. Als wäre es kein echtes Baby, das im Sterben lag, sondern bloß ein Spezialeffekt.
Mit der Zeit wurde es immer schwächer, bis es sich schließlich nicht mehr bewegte. Sein Atmen wurde flach, hörte irgendwann ganz auf. Gesicht und Hände waren still. Noch immer von dem Anblick gefesselt, legte Hester ihren Kopf neben den des Babys, rutschte ganz nah heran und versuchte, den letzten Atemzug zu hören, der seinen kleinen Körper verließ. Seinen letzten Seufzer. Sie verpasste ihn, aber das änderte nichts: Das Baby war tot.
Es lag reglos in seinem Bettchen, als warte es darauf, dass jemand kam und seine Batterien auswechselte. Hester stupste es an. Es bewegte sich nicht. Wieder knuffte sie es, diesmal heftiger. Noch immer zeigte es keine Reaktion. Dann mit beiden Händen. Es wackelte hin und her, lag aber wieder in seiner ursprünglichen Position, als sie davon abließ.
Das war es also. Das Baby war tot. Hester war keine Mutter mehr.
In diesem Augenblick spürte sie etwas, einen Schmerz im Innern, als sei ihr etwas weggenommen worden, was niemals ersetzt werden konnte. Diese Empfindung löste eine Erinnerung in ihr aus. Ein älteres, ganz ähnliches Gefühl, dass etwas aus ihrem Körper genommen worden war. Verzweifelt kämpfte sie gegen die Erinnerung an. All die Jahre hatte sie versucht, sie aus ihrem Kopf zu verbannen, denn immer wenn sie plötzlich in ihr hochkam, spürte sie dabei einen Schmerz, der so schlimm war, dass sie es kaum aushalten konnte. Dann stürzte sie in eine tiefe Depression, die Tage oder sogar Wochen andauern konnte. Wie ein Gespenst schlich sie durchs Haus und vernachlässigte ihre Arbeit. Statt Essen zu kochen, weinte sie bloß über ihren Verlust. Und sie konnte nichts dagegen tun. Sie konnte bloß warten, bis es vorüber war.
Sie musste dagegen kämpfen. Schob sich die Hände zwischen die Beine und presste ihre Schenkel fest zusammen.
»Nein ... nein ... komm nicht zurück, alles ist in Ordnung. Alles wird gut...« Währenddessen schaukelte sie auf dem Bett vor und zurück.
Es half nichts. Die Erinnerung war bereits da. Wieder einmal spürte sie den schneidenden Schmerz der Schuld, die Scham und die Demütigung. Sah sich selbst, wie sie nackt auf dem Boden herumkroch, während Blut und andere Sekrete aus ihr herausflossen. Die grausamen, hasserfüllten Worte dröhnten in ihren Ohren. Und all der Schmerz, der sich durch ihren Körper fraß, wie wild in ihrem Kopf hämmerte. Es war mehr, als ein einzelner Mensch ertragen konnte - oder in jedem Fall mehr, als der Mensch, der sie früher gewesen war, hatte ertragen können.
Sie erinnerte sich daran, wie der Schmerz und die Demütigung sie in die Küche getrieben hatten. Wie ihre Hände die Schublade öffneten. Sie konnte kaum sehen, was sie tat, so blind war sie vor Tränen, die ihr in einem unablässigen Strom das Gesicht hinabliefen.
»Hör auf ... hör auf ...«Zu einer Kugel zusammengerollt, die Hände noch immer zwischen die Schenkel geklemmt, wiegte sich Hester auf dem Bett vor und zurück. Aber es nützte nichts. Das tote Kind neben ihr hatte die Lawine ins Rollen gebracht. Unaufhaltsam drängten die verschütteten Erinnerungen auf sie ein.
»Oh Gott... nein ...«
Sie sah ihre eigene Hand vor sich, wie sie die Schublade aufzog, nach dem Messer fasste ... »Nein ...«
Sie presste die Schenkel noch heftiger zusammen, kniff die Augen zu, so fest sie konnte.
»Es soll aufhören ... nein ... ich will das nicht...«
Die Hand nahm das Messer, strich damit über ihre Haut... sie spürte, wie scharf die Klinge war, wie kalt am weichen Fleisch ihres Unterleibs. Sie presste sie gegen die Haut - zögerlich zunächst, nur um zu sehen, wie es sich anfühlte. Um zu prüfen, ob sie den Schmerz würde aushalten können ...
Keine Worte mehr, nur noch undeutliches, ersticktes Schluchzen.
Aber was war dieser Schmerz gegen all die
Weitere Kostenlose Bücher