Entrissen
ein.
»Und was ist mit den anderen drei Morden?«, fragte Marina. »Hat er die auch aus Versehen begangen?«
Fenwick starrte sie an. Phil trat vor, um den dienstälteren Kollegen notfalls gewaltsam aus dem Raum zu entfernen. Oder sich ihm in den Weg zu stellen, sollte er auf Marina losgehen.
Stattdessen rang sich Fenwick ein Lächeln ab. »Das werden wir ihn alles fragen, wenn wir ihn vorgeladen haben.«
»Die Sache eskaliert. Die Zeit zwischen den Morden wird immer kürzer.«
»Umso mehr Grund, unverzüglich zu handeln.«
Marina trat direkt vor Fenwick hin und sah ihm fest in die Augen. In Fenwicks Gesicht zuckte ein Muskel, er wich aber nicht zurück. »Und wenn ein weiterer Mord geschieht, während Sie Brotherton hier festhalten, dann haben Sie damit kein Problem? Sie würden die Verantwortung dafür übernehmen?«
»Psychologie ist ja gut und schön«, konterte Fenwick, seine Stimme so herablassend wie möglich, »aber echte Beweise sind etwas ganz anderes. Verhaften Sie ihn.«
Er drehte sich um und ging.
Das Schweigen, das auf seinen Abgang folgte, war lauter als das Wortgefecht zuvor.
»Und während wir mit ihm unsere Zeit verschwenden«, sagte Marina, deren Stimme im stillen Raum widerhallte wie ein Stein, der in einen Abgrund geworfen wird, »läuft der Mörder weiter frei herum.«
Sie verstummte, aber es war klar, dass ihre Wut keineswegs verraucht war. Nun wandten sich alle Blicke Phil zu. Er war sich bewusst, dass sie ihn anstarrten, und wusste, dass er eine Entscheidung treffen musste.
»Wir laden Brotherton vor«, entschied er schließlich.
Marina drehte sich ihm zu. »Aber Phil ...«
»Wir haben keine Wahl. Es gibt gewisse Vorbehalte gegen ihn als Täter, aber im Moment haben wir keine andere Spur. Wir laden ihn vor.«
Marina wandte sich ab.
»Aber ich will, dass du ihn zusammen mit mir verhörst, Marina. Wenn er nicht unser Mann ist, will ich ihn so schnell wie möglich als Verdächtigen ausschließen.«
Sie hatte ihm noch immer den Rücken zugedreht, nickte aber.
Phil seufzte und ignorierte die eiserne Klammer, die sich um seine Brust schloss. »Also gut«, sagte er. »Holen wir ihn uns.«
35
Hester blickte sich im Haus um und war zufrieden mit dem, was sie sah.
Sie hatte die Werkzeuge weggeräumt und die Sensen an ihren Haken neben der Tür aufgehängt, nachdem sie die Schneideblätter gewetzt und geölt hatte. Dann hatte sie das Wohnzimmer gefegt und die Zinkwanne mitten im Raum aufgestellt, damit sie dem Baby in seinem neuen Heim als Erstes ins Auge springen würde. Sie hatte den Abwasch erledigt und auch die Küche aufgeräumt. Sie war sogar auf die Leiter gestiegen und hatte die schwarze Folie wieder festgetackert, die über die verrotteten Balken an der vorderen Ecke des Hauses gespannt war, um Wind und Regen abzuhalten. Alles war bereit.
Sie setzte sich in einen der alten Sessel.
»Die Arbeit einer Frau ist nie getan«, sagte sie und lächelte.
Alles würde gut werden. Bald würde ihr Mann wieder fortgehen, um seine nächste Beute zu finden. Dann würde er ihr ein neues Baby mit nach Hause bringen. Sie kicherte. War das nicht ein Lied? Es klang wie ein Lied. Wenn es kein Lied war, hätte es eins sein müssen.
Sie legte die Hände in den Schoß. Über das Baby, das gestorben war, machte sie sich keine Gedanken mehr. Das erlaubte sie sich nicht. Es war tot und begraben. Draußen im Garten neben dem Schweinekoben. Sie hatte das Grab nicht gekennzeichnet. Wollte nicht daran erinnert werden. Das war vorbei. Es war nicht gut, in der Vergangenheit zu leben, das wusste sie aus eigener bitterer Erfahrung. Jedes Mal, wenn sie anfing, über die Vergangenheit nachzudenken, wurde sie traurig. Wenn sie an das tote Baby dachte, würde sie vielleicht auch traurig werden. Und wenn es erst einmal so weit war, würde sie vielleicht anfangen, an die Zeit zurückzudenken, bevor sie ... bevor sie zu dem wurde, was sie jetzt war. Oder an ihre Schwester ...
Ihre Schwester. Sie versuchte, nicht an ihre Schwester zu denken. Nicht einen Moment lang. Sie vermisste sie immer noch. Früher hatten sie sich sehr nahegestanden. Aber jetzt war sie fort. Lange, lange schon.
Hester stand auf. Schlug sich mit den Fäusten gegen die Schläfen, um ihren Kopf freizubekommen, um ihre Gedanken daran zu hindern, in eine ganz bestimmte Richtung zu wandern. Mit jedem Schlag stöhnte sie auf. Sie musste etwas tun, um sich von ... von ...
davon
abzulenken.
Sie öffnete die Seitentür und trat auf den Hof
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