Entrissen
Band.
Niemand im Raum sprach oder rührte sich. Die Aufmerksamkeit galt einzig und allein dem Fernsehschirm. Phil dachte wie alle anderen im Raum:
Das ist er. Jetzt sehen wir den Mörder zum ersten Mal.
»Ziemlich groß.« Clayton war der Erste, der das Schweigen brach. Er sprach an, was alle dachten: Es hätte Brotherton sein können. Ein paar aus dem Team nickten und murmelten ihre Zustimmung. Dann warteten sie darauf, dass das Band weiterlief.
»Die Zeit?«, wollte Phil wissen.
»Kurz nach neunzehn Uhr dreißig«, sagte Adrian. »Jetzt sehen Sie mal genau hin. Er will ins Haus, weiß aber nicht wie. Er hat keinen Schlüssel. Also wartet er.«
Er ließ den Film weiterlaufen. Die Gestalt versuchte vergeblich, die Tür zu öffnen, bewegte sich wieder zurück und verschwand um die Ecke. Adrian spulte ein Stückchen vor, und der Mann kehrte, mit drei vollen Einkaufstüten beladen, zurück.
Phil runzelte die Stirn. »Die Einkäufe haben wir nirgends gefunden ...«
Die Gestalt hielt sich an der Seite des Gebäudes im Verborgenen. Erst als einige Zeit später eine Frau auf die Eingangstür zutrat und einen der Klingelknöpfe drückte, löste sich die Gestalt von der Hauswand und kam, unter der Last der scheinbar schweren Tüten schwankend, um die Ecke. Die Frau drehte sich um und hielt mit einer Hand die Tür auf.
»Es sieht so aus, als würde er ihr etwas zurufen«, sagte Adrian. »Vermutlich bittet er sie, ihm die Tür aufzuhalten.« Erneut warf er einen Blick auf den Bildschirm. »Und sie tut es, sehen Sie. Mit einem Lächeln.«
Die Frau hielt dem Unbekannten die Tür auf. Er nickte zum Dank. Dann fiel hinter den beiden die Tür ins Schloss.
»Und schon ist er drinnen«, sagte Adrian.
»Wer ist die Frau?«, fragte Phil. »Haben wir sie schon vernommen? Hat sie uns eine Beschreibung geliefert?«
Adrian bedachte ihn mit einem Blick, der Triumph und Bedauern zugleich ausdrückte. »Ja, wir waren schon bei ihr. Aber wir haben nicht mit ihr gesprochen.« Er hielt das Band an und spulte bis zu der Stelle zurück, an der sie wieder im Bild auftauchte. »Schauen Sie genau hin.« Er drückte auf
Play.
Das Team trat gesammelt einen Schritt näher.
»Scheiße«, sagte Clayton.
»In der Tat«, sagte Phil. »Das ist Julie Simpson.«
Es war, als seufze der ganze Raum vor Enttäuschung auf. Phil schüttelte den Kopf. »Sie hat ihren eigenen Mörder ins Haus gelassen ...«
»Wenn es Brotherton gewesen wäre, hätte sie ihn erkannt«, sagte Clayton.
»Nicht wenn er sich verkleidet hatte«, wandte Anni ein, »und sein Gesicht verborgen war.«
Es wurde still im Raum, während alle ratlos auf den Bildschirm starrten.
Phil hob die Hand. Ihm war etwas eingefallen. »Was ist mit den Einkaufstüten? In Claire Fieldings Wohnung haben wir keine gefunden ... hat jemand das Treppenhaus kontrolliert?«
»Er wird sie bestimmt wieder verwenden«, warf Jane Gosling ein.
»Sehr umweltfreundlich«, meinte Clayton.
»Also.« Adrian räusperte sich laut, damit sich alle wieder auf ihn und das Video konzentrierten. Mit einem Knopfdruck ließ er das Band weiterlaufen. »Er ist drinnen. Um genau neunzehn Uhr achtunddreißig.«
Er spulte vor, stoppte das Band dann wieder, als sich die Eingangstür von innen öffnete.
»Zehn nach neun«, verkündete er. »Chrissie Burrows geht nach Hause. Ein Stückchen weiter ...« Wieder hielt er das Band an. Man sah, wie Geraint Cooper das Gebäude verließ. »Neun Uhr fünfunddreißig.«
»Wir wissen also nicht, was er die ganze Zeit über macht oder wo genau er sich aufhält«, erklärte Jane Gosling. »Aber wir wissen, dass er im Gebäude ist. Und auf seine Gelegenheit wartet. Falls man ihn anspricht, hat er die Einkaufstüten als Tarnung. Er kann so tun, als sei er auf dem Weg in eines der oberen Stockwerke. Wahrscheinlich ist er zu diesem Zeitpunkt gerade auf dem Weg zur Wohnung. Oder bereits drinnen. Schauen wir uns jetzt noch an, was passiert, als er wieder herauskommt.« Sie ließ sich von Adrian Wren die Fernbedienung reichen und spulte vor, bis sie die Stelle fand, nach der sie gesucht hatte. Die Haustür öffnete sich, die Gestalt trat nach draußen. Sie trug genau dieselben Kleider wie vorher und hatte auch die Einkaufstüten noch bei sich.
»Er muss seine Ausrüstung in den Tüten transportiert haben. Unten die Waffen, obendrauf die Lebensmittel«, sagte Jane. »Und eine Decke oder etwas anderes, worin er das Baby einwickeln konnte.« Ihre Stimme wurde leiser. »Es muss ja ziemlich
Weitere Kostenlose Bücher