Entscheidung auf Mallorca
Brei liefen. Nichts erinnerte mehr an vergangene Zeiten: keine frechen Antworten, kein Lachen, keine Blödeleien.
Die Zusammenkünfte wurden zur Qual. Am meisten für Wulf, der sich immer häufiger sagte: Miriam und Harald wollen mir helfen, werden mit mir aber nicht mehr fertig. Ich fühle, daß das innere Band zerrissen ist; man mag es mir nur nicht sagen. Aus Freundschaft, Kameradschaft oder Anständigkeit. Ich sollte sie von mir befreien.
Zwangsläufig geriet er in einen Widerstreit der Empfindungen, und erneut begann eine Zeit, in der er beim geringsten Anlaß den Schrei des Kindes hörte, der ihn monatelang nicht mehr verfolgt hatte.
So auch an einem Tag im Januar 1956, an dem er eine Ansichtskarte aus Barcelona erhielt. Das Foto und die an ihn gerichteten Zeilen ließen in wenigen Sekunden kaleidoskopartig die Ereignisse des letzten Jahres an ihm vorüberziehen. Die Karte stammte von Greta Fischhauer, der attraktiven Düsseldorferin, die ihn zu seiner ersten Reise nach Spanien eingeladen hatte. Sie schrieb:
»Erinnern Sie sich? Heute vor einem Jahr hoben Sie im ›Humplmayr‹ eine Serviette auf. Zwei Briefe, einer aus Barcelona und einer aus München, waren Ihre Lebenszeichen. Finden Sie nicht, daß das etwas wenig ist? Oder entschuldigt Sie Ihr Studium? Ich hoffe, bald einmal wieder von Ihnen zu hören. Herzlichst, Ihre G. F.«
Ein Schuldgefühl erfaßte ihn, und fast augenblicklich vernahm er den Schrei des Kindes.
»Ich halte das nicht mehr aus«, stöhnte er. »Soll ich denn nie mehr Ruhe finden?«
Er riß seinen Mantel vom Haken und rannte nach draußen.
Wie gehetzt lief er durch die Straßen. Doch was half es? Zwischen den großen und nassen Schneeflocken, die wie Wattetupfen auf die Erde herabfielen und das Häusermeer grau und schmutzig erscheinen ließen, drängten sich ihm unentwegt Bilder des vergangenen Jahres auf.
Er fror und schlug den Mantelkragen hoch. Ich muß Harald aufsuchen, sagte er sich. Wenn ich jetzt nicht zu ihm gehe, betrink’ ich mich. Er muß mir helfen. Sonst werde ich wieder wortbrüchig.
Harald war nicht zu Hause.
Enttäuscht trat Wulf auf die Straße zurück und überlegte, ob er versuchen sollte, den Freund in der Technischen Hochschule zu treffen, sagte sich dann aber, daß er ihn dort doch nicht finden würde.
Unschlüssig stand er eine Weile vor einer Litfaßsäule. Dann ging er weiter, ohne zu wissen, wohin. Schneeflocken wirbelten ihm in das Gesicht. Er bemerkte es nicht. Ziellos lief er durch die Straßen, bis er plötzlich stehenblieb, da er sich einbildete, in einem der Schaufenster, an denen er gerade vorübergegangen war, ein Aquarell gesehen zu haben, das ihm bekannt vorkam und merkwürdig vertraut erschien. Dabei wußte er bestimmt, daß er es nicht betrachtet hatte. Er hätte auch nicht sagen können, was es darstellte. Irgend etwas an dem Bild hatte seine Aufmerksamkeit erregt und zwang ihn, zurückzugehen.
Sekunden später wußte Wulf, was es gewesen war. Er stand vor einem Aquarell, das Miriams eigenwilliges Signet trug.
Verwirrt schaute er auf den Namen des Geschäftes: Er stand vor der »Galerie Margot«, vor der Kunsthandlung, die sich vor Jahresfrist bereit erklärt hatte, Miriams Arbeiten auszustellen, falls sie 1500 Mark zur Deckung der Unkosten aufbringen würde.
Wulf war es, als legte sich ihm ein Ring um die Brust. Es gab keinen Zweifel: Miriam hatte ihr Ziel erreicht und hatte es ihm verschwiegen.
Wie ein Ausgestoßener kam er sich vor. Er hätte fliehen mögen, blieb jedoch stehen und blickte auf das Bild, das einen alten, bärtigen Männerkopf darstellte, dessen Haut aus Pergament zu sein schien. In seinen Augen leuchtete das Blau der Cote d’Azur .
Er war verzweifelt. Immer wieder fragte er sich: Warum hat Miriam mir nicht erzählt, daß ihre Arbeiten ausgestellt werden? Sie weiß doch, daß ich … Mein Gott, wie hätte ich mich mit ihr gefreut!
Unentwegt betrachtete er das Bild. Er achtete nicht auf die Schneeflocken, die auf ihn herabfielen. Er fuhr sich erst über das Gesicht, als dicke Tropfen aus seinen Brauen rannen.
Bedrückt trat er an das nächste Fenster, prallte jedoch gleich darauf zurück. Er stand vor einer italienischen Landschaft, in deren Vordergrund ein junger Mann in Bluejeans an einer verfallenen Mauer lehnte und über ein im Dunst liegendes Meer hinwegblickte.
Wulf hätte schreien mögen. Harald war es, der an der Mauer lehnte. Jetzt begreife ich, tobte es in ihm. Die beiden haben auf der Rückreise …
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