Entscheidung der Herzen (German Edition)
Stoffstreifen, der die Wunde bedeckte. Cassian schrie leise auf – und Cathryn erstarrte. Die Wunde eiterte bereits. Die Ränder waren tiefrot und fingerdick angeschwollen. An einigen Stellen begann das befallene Fleisch bereits zu faulen. Als sie die Wundränder berührte, spürte sie ein heftiges Pochen darin. Sie wusste, was das hieβ: Cassian hatte sich tatsächlich einen Wundbrand zugezogen.
Cathryn stand auf und ging hinunter zur Hauswirtin, um sich ein wenig Essig von ihr zu leihen. Dann holte sie im Waschgeschirr Wasser und versuchte, mit kühlen Umschlägen Cassians Beschwerden zu lindern.
Doch nichts half. Obwohl Cathryn nahezu zwei Stunden lang seine Stirn und die Wunde gekühlt hatte, stieg das Fieber offensichtlich. Cassian lag mittlerweile vollkommen apathisch da und reagierte weder auf Cathryns Berührungen noch auf ihre Worte.
Schlieβlich wusste sie sich keinen anderen Rat mehr und eilte aus dem Zimmer hinaus in die Gassen von Soho, um einen Bader, einen Arzt, eine Kräuterfrau oder irgendwen sonst zu finden, der Cassian helfen konnte.
Es war schon dunkel, und die Menschen, die ihr Tagwerk noch in der Nacht erfüllen mussten oder sich von der Arbeit erholten, bevölkerten die Gassen. Aus den offenen Türen der Pubs drang Lärm und Gelächter, Betrunkene torkelten vorüber, verlotterte Huren lehnten an den Hauswänden und versuchten, Kundschaft anzulocken.
Cathryn eilte mit gesenktem Kopf und ohne einen Blick nach links oder rechts zu werfen, die Straβe entlang.
Ein Mann hielt sie am Arm fest. »Komm, meine Schöne, lass uns zu den Vögeln gehen«, lallte er und stieβ ihr seinen weinsauren Atem ins Gesicht.
Cathryn riss sich los und eilte weiter. Zwei Reiter sprengten mit klappernden Hufen heran, sodass die Passanten wie aufgescheuchte Hühner an den Rand der Gasse sprangen und sich an die Hauswände drückten.
Die Gehilfen des Coroners, des Befehlshabers der Londoner Gerichtsbarkeit, schlenderten aufmerksam vorüber und musterten Cathryn mit scheelen Blicken.
»Verzeiht«, sprach sie die Männer schüchtern an und raffte das einfache Umschlagtuch über der Brust zusammen. »Mein Mann liegt krank und ich suche einen Arzt. Wir sind noch nicht lange in der Stadt. Könnt Ihr mir sagen, wo ich einen finden kann?«
»Einen Arzt sucht Ihr? Hier, in Soho?«
Der jüngere der beiden Schergen lachte. »Du siehst nicht aus, als könntest du einen Arzt bezahlen.«
»Mit einer Kräuterfrau oder einem Bader wäre mir auch geholfen.«
Der ältere schien Mitleid mit Cathryn zu haben. »Geh die Gasse hinunter. An der nächsten Ecke biegst du nach links und gehst bis zum Ende dieser Gasse. Auf der rechten Seite befindet sich eine ärmliche Hütte. Sie gehört der alten Megan. Eine Kräuterfrau ist sie und hat schon vielen geholfen.«
»Ich danke Euch.«
Kaum hatte Cathryn die gewünschte Auskunft erhalten, eilte sie schon weiter. Endlich hatte sie die bezeichneteHütte, die sich eng an die Gasse aus gestampftem Lehm duckte, erreicht. Atemlos klopfte sie.
Es dauerte eine ganze Weile, bis hinter der schäbigen Holztür Geräusche laut wurden.
»Ja, ich komm ja schon. Mach nicht solch einen Lärm mitten in der Nacht. Die Nachbarn wollen schlafen!«
Endlich wurde die Tür geöffnet – und Cathryn erschrak. Vor ihr stand eine alte Frau, der das Alter die Schultern gebeugt hatte. Dünnes, weiβes Haar, zu einem spärlichen Zopf gebunden, hing ihr bis auf die Brust hinab. Das Gesicht war von Blatternarben entstellt.
»Was willst du?«, fragte die Frau und ihre Stimme klang mit einem Mal so warm und freundlich, dass Cathryn am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre.
»Mein Mann ist krank. Er hat Fieber, doch die Umschläge helfen nicht. Eine Wunde an der Schulter hat sich entzündet.«
Die Alte nickte. »Sind die Ränder rot und dick geschwollen? Riecht die Wunde nach Fäulnis? Pocht sie? Hat der Mann kalten Schweiβ?«
»Ja«, erwiderte Cathryn. »Das alles hat er.«
»Da hilft nur ein Umschlag mit Maden.«
»Mit Maden?«, fragte sie entgeistert und sich bei dieser Vorstellung schüttelnd nach.
Die Alte nickte. »Die Maden fressen das faule Fleisch, sodass das Gift nicht mehr weiter in den Körper dringen kann.«
Cathryn hob hilflos die Schultern. »Aber woher soll ich Maden nehmen?«
Die Alte lachte meckernd. »Na, woher schon! Vom Friedhofnatürlich.«
Abwehrend hob Cathryn die Hände. »Nein, nein. Ich gehedes Nachts nicht auf den Friedhof. So etwas zu tun, ist eine Sünde. Man darf die Ruhe
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