Entscheidungen
Vampire, die hier leben, fürchten sich vor ihm. Er betreibt dunkle Geschäfte. Schiebereien, Geldsachen. Wenn er auch nur wüsste, dass ich mit dir rede…" Er brach ab.
"Wieso arbeitest du für ihn?", fragte ich atemlos. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie Xander dort hineingeraten war.
"Ich habe einen Deal… mit dem Hunter."
"Du hast was?" Entsetzt riss ich die Augen auf.
"Ich habe einen Deal. Er hat mich nicht getötet, dafür liefere ich ihm Raphael." Xander vergrub das Gesicht in den Händen und schüttelte den Kopf.
"Wieso… wollte er dich töten?" Mein Hals war ganz trocken, und ich schluckte ein paarmal schwer.
"Weil ich Idiot zu ihm gegangen bin. Ich wollte Ashley rächen. Ich dachte… Es tut mir leid, Lily. Ich habe wirklich nicht gewusst, was sie alles getan hat."
"Und jetzt weißt du es?"
Er nickte.
"Wieso bist du nicht zu mir gekommen? Ich hätte dir doch helfen können!" Ich berührte sanft seinen Arm.
"Ich habe mich geschämt. Und ich habe den Deal zu erfüllen. Der Hunter sucht Raphael schon seit Jahren. Doch es ist fast ein Ding der Unmöglichkeit, ihn zu finden. Kaum einer seiner Anhänger hat ihn je zu Gesicht bekommen. Und das hat auch seine Gründe."
"Was für Gründe?"
"Er ist ein Kind."
Die Gedanken rasten in meinem Kopf herum, während ich über das stockdunkle Campusgelände lief. Immer wieder sah ich mich um, aus Angst, hinter jedem noch so unauffällig aussehenden Busch könnte jemand lauern und mich angreifen.
Ein Kind. Xander arbeitete für ein Kind. Ein tausend Jahre altes Kind wohlbemerkt.
Er besorgte ihm frisches Blut, jungen Frauen und Männer, die nur allzu gerne bereit waren, ihr Leben gegen eine unsterbliche Hülle einzutauschen. Ich dachte unwillkürlich an die beiden Freunde von Mike: Bloody und Thirsty. Wären sie ebenfalls bereit, alles dafür zu tun, um unsterblich zu werden?
Doch ich ahnte auch, dass Xander mir nur die halbe Wahrheit gesagt hatte. Ich hatte das blonde Mädchen gesehen, was vor ihm davon gelaufen war. Er hatte es gejagt. Ganz so freiwillig schienen demnach nicht alle seine Opfer mit ihm mitzugehen.
Der Gedanke erschreckte mich. Alles, was er mir erzählt hatte, erschreckte mich. Das ganze unterirdische Netzwerk, die "andere Welt", wie er es nannte. Ein in sich funktionierendes Netz, was parallel zu unserer Wirklichkeit existierte. Geleitet von einem Kind, Raphael.
Und ausgerechnet Xander musste ihn unvorsichtig werden lassen. Er brauchte sein Vertrauen, um dem Hunter den Weg ebnen zu können. Doch Raphael wurde gut beschützt.
Ich dachte an den nickelbrillentragenden Vampir: Murphy. Der Schreckliche, wie Xander ihn nannte. Murphy sah zwar aus, wie ein harmloser Bibliothekar, doch seine Methoden zu foltern, waren berühmt und berüchtigt. Und er traute Xander nicht.
Ich schluckte schwer.
In was war er da nur hineingeraten?
"Die meisten seiner Opfer verwandelt er gar nicht. Er spielt mit ihnen, lässt sie in dem Glauben, er würde sie unsterblich machen. Manche bleiben bis zu einem Jahr bei ihm unter der Erde, dienen ihm, lassen sich beißen, leben aber weiter." Ich hörte Xanders Stimme noch immer in meinen Ohren.
"Wie ist das möglich? Ich dachte, jeder noch so kleine Biss eines Vampirs führt unweigerlich zum Tode?" Verwirrt sah ich ihn an.
Xander schüttelte den Kopf. "Nein, ich habe viel gelernt in den letzten Monaten. Nicht jeder Biss ist tödlich. Du musst nur wissen, wie du das Gift im Zaun hältst. Es ist ein bisschen wie bei einer Schlange. Die Giftdrüsen sind aktiv, aber wir müssen sie nicht einsetzen. Sonst wäre ja auch jeder Kuss, den Sam dir gibt, ein Risiko." Er sah gequält aus.
Daran hatte ich ja noch überhaupt nicht gedacht! Er hatte Recht, wenn Sam mich beim Küssen verletzen würde, wäre es aus. Vorbei.
Ich räusperte mich, um den Kloß in meinem Hals loszuwerden. Es war doch beruhigend zu wissen, dass das nicht so war. Doch war Sam das überhaupt bewusst? Mir fiel wieder einmal auf, wie wenig er mich in sein neues Leben integrierte. Er wollte nicht, dass ich etwas darüber wusste. Er wollte eine ganz normale Beziehung. Doch war das überhaupt möglich? Ich konnte ihn ja nicht einmal mit zu meinen Eltern nehmen!
Ich schob mich an einer Gruppe Studenten vorbei in mein Wohnheim und lief die Treppe in den ersten Stock hinauf.
Es war kurz nach zehn.
Hoffentlich wartete Sam nicht bereits auf mich. Er durfte nicht erfahren, wo ich gewesen war.
Zu meiner Erleichterung war das Zimmer leer.
Schnell schlüpfte
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