Entschuldigen Sie Meine Stoerung
schön.
Nehmen Sie sich ein Beispiel an Herrn Nolte und Frau Matuschewski. Das waren die einzigen Patienten, die freiwillig und pünktlich erschienen sind. Ich werde aber einen Teufel tun und die beiden dafür loben, schließlich sind es die einzigen Patienten, die nicht unter Menschenangst leiden, sondern unter einer narzisstischen Störung. Sie genießen das Bad in der Menge, weil sie sich selbst großartig finden. Das können wir ihnen natürlich nicht durchgehen lassen. Deshalb werde ich die beiden nun mit Gewalt entfernen lassen. Tobias und Thomas, übernehmen Sie.«
Dr. Möbius macht eine Pause, in der die beiden Pfleger dem Befehl nachkommen. Dann fährt er fort:
»Und damit kommen wir zum ersten Punkt der Tagesordnung: die schwache Resonanz auf unser Frühsportangebot. So geht das nicht, meine Herrschaften.« Er blickt tadelnd in die Runde. »Das ist ein wichtiger Teil des Therapieplans. Sie können nicht einfach fernbleiben. Der Herr in der ersten Reihe zum Beispiel, Sie habe ich da heute Morgen nicht gesehen.«
Er zeigt auf mich, und ich zucke zusammen. Natürlich war ich nicht beim Frühsport. Ich bin ja erst seit gestern heimlich in der Klinik und wusste gar nichts davon. Aber selbst wenn, wäre ich nicht hingegangen. Frühsport! Wie das schon klingt. Wie Frühstück, nur ohne Stück. Stattdessen mit Sport.
»Warum waren Sie denn nicht da?«
Natürlich erwartet er keine sinnvolle Antwort, er will mich nur in die Bredouille bringen, für ihn ist der Fall klar: Ich bin entweder zu faul, um in aller Herrgottsfrühe meine Gliedmaßen zu bewegen, oder zu ängstlich, um mich unter Menschen zu begeben. Aber unter Druck funktioniere ich manchmal recht gut. Gerade will er weiterreden, als ich ihm laut entgegne:
»Kein Bock.«
Er starrt mich überrascht an. Weil ich nicht wie erwartet in Erklärungsnot gerate und blöd herumdruckse. Stattdessen ergreife ich die Gelegenheit zu einer flammenden Rede gegen den Frühsport:
»Schön, dass Sie mir die Möglichkeit geben, mich in diesem Auditorium zu erklären, sehr geehrter Dr. Möbius.«
Ich stehe auf und gehe nach vorn zu ihm ans Podium, wo ich dramatisch auf und ab laufe wie ein Staranwalt in einem Hollywood-Film während seines Schlussplädoyers. Mit kräftiger Stimme schmettere ich:
»Es ist mittlerweile eine schöne Tradition, die ich nicht missen möchte: Jeden Morgen um Punkt 6.45 Uhr gehe ich nicht zum Frühsport. Schon frühmorgens fernzubleiben tut mir gut, es weckt meine Lebensgeister und hält mich einsam. Das Schöne: Ich bin nie allein, es gibt unzählige Menschen, die mit mir dem Frühsport fernbleiben. Diesen Menschen fühle ich mich eng verbunden. Gerade weil ich sie nicht kenne. Sie bilden die erste und einzige Gemeinschaft meines Lebens, der ich mich wirklich zugehörig fühle. Menschen, bei denen ich nicht Gefahr laufe, sie jemals kennenzulernen, liebe ich abgöttisch. Wir Fernbleiber sind eine wichtige gesellschaftliche Gruppe, wir könnten Wahlen entscheiden. Wenn wir ihnen nicht fernblieben. Gemeinsam gehen wir durch dick und dünn. Nur eben an verschiedenen Orten und nie zur gleichen Zeit. Wenn ich in Berlin durch dick gehe, geht Deutschlands berühmtester Fernbleiber Kalle Masursky in Bottrop durch dünn. Wenn er es nicht sein lässt. Das Fernbleiben ist für mich ein Jungbrunnen. Ich könnte es den ganzen lieben langen Tag tun und abends mit Beleuchtung. Und endlich erobert dieser Trend auch die pflichtbewussten Deutschen; immer mehr Menschen kommen auf den Geschmack und werden zu Fernbleibern. Es gibt bereits die ersten Kongresse, die allerdings ausnahmslos zum Flop werden, weil die Teilnehmer der Veranstaltung fernbleiben. Die Sponsoren reagierten nach dem ersten Kongress sehr gereizt und erklärten, die Versammlung nicht mehr zu unterstützen, solange die Zielgruppe nicht anwesend sei. Das ist im Übrigen ein Trend, der mir seit geraumer Zeit Sorge bereitet: Immer weniger Unternehmen sind bereit, ohne Gegenleistung Geld zu bezahlen. Eine bedenkliche Entwicklung, und ich bin froh, dass ich mir hier das Forum gebe, auf diesen Missstand einmal hinzuweisen. Auch wenn es keine Sau hört, außer ein paar Gestörten in der Klinik. Aber mal sehen, vielleicht schreibe ich ein Buch über meine Zeit in dieser Anstalt.
Wie dem auch sei: Trotz unserer wachsenden Zahl stoßen wir Fernbleiber in der Gesellschaft noch immer auf viele Ressentiments. Die meisten von uns wissen allerdings gar nicht, was Ressentiments sind, und schauen lediglich
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