Entschuldigen Sie Meine Stoerung
schließen will, sieht sie, dass ich ihr folge.
»Wieso folgen Sie mir? Wollen Sie zusehen, ob ich es schaffe, meinen Schrank aufzusperren?«
»Nein, mich interessiert, ob Sie es schaffen, Ihren Fernseher einzuschalten oder nicht. Mensch, Mensch, bin ich neugierig.«
Die Frage, die mich eigentlich beschäftigt, lautet: Wie kann ich meinen angestammten Platz hinter dem Vorhang einnehmen, ohne dass sie es mitbekommt? Ich muss sie kurz ablenken und die Verwirrung ausnutzen. Ich sehe bewundernd an ihr vorüber und sage:
»Schönes Zimmer haben Sie.«
»Na ja, wie alle anderen Patienten auch. Ein typisches Patientenzimmer eben. Oder sieht Ihres anders aus?«
Oha. Das hat gesessen. Negative Gefühle überwältigen mich. Düstere Kindheitserinnerungen brechen sich Bahn. Das ist aber auch ein Scheiß mit der Kindheit. Ich denke an die Zeiten, als meine Eltern mir mein eigenes Zimmer vorenthielten. Obwohl wir in unserer Wohnung drei Zimmer zu viel hatten. Von denen meine Eltern nicht einmal wussten, wie sie sie nutzen sollten. Nur dieser eine Satz von Frau Kautge – und all die endlosen Diskussionen bei Frühstück, Mittag- und Abendessen schießen mir wieder in den Sinn.
»Emil«, sagte meine Mutter immer zu meinem Vater. »Was machen wir nur mit den drei Zimmern, für die wir keine Verwendung haben? Ich habe einfach keine Idee.«
»Ich bräuchte eins«, meldete ich mich mit meiner kleinen Kinderstimme vorsichtig zu Wort.« Der Stimmbruch lag damals gut und gern noch zehn Jahre vor mir. »Ich finde es auf dem Flur voll ungemütlich. Besonders seit ihr beide zu den drei Millionen Deutschen gehört, die nachts raus müssen. Immer wache ich auf, wenn ihr aufs Klo rennt.«
»Keine Ahnung«, überging mein Vater meinen Einwand. »Wir könnten sie vielleicht an die Nachbarskinder vermieten. Die Armen haben keine eigenen Zimmer.«
»Ich habe auch kein eigenes Zimmer. Ich würde auch eins nehmen«, schaltete ich mich erneut kleinlaut ein.
»Immer ›Ich! Ich! Ich!‹ Du bist so ein Egoist, Jan-Uwe. Denk doch mal an die anderen Kinder«, tadelte mich mein Vater. Und meine Mutter fügte hinzu: »Kannst du überhaupt die Miete zahlen?«
Kleinlaut gab ich zu, dass ich das nicht konnte. Und so zogen drei Tage später die Nachbarskinder bei uns ein. Die konnten zwar auch keine Miete bezahlen, sie wurde ihnen von meinen Eltern aber auch erlassen. Fand ich sehr anständig.
Nun, knapp dreißig Jahre später, holen mich diese Erinnerungen wieder ein. Eine Träne fließt aus meinem rechten Auge. Mein linkes Auge schaut neidisch zu seinem Pendant hinüber, denn es kann nicht weinen. Links ist mein Tränenkanal verstopft. Viele Leute glauben, ich schiele beim Weinen. Ist aber nur mein linkes Auge, das neidisch auf mein rechtes blickt.
Ich bin sogar in der Klinik ein Außenseiter. Wieder haben alle ein Zimmer. Nur ich nicht. Ich wische mir die Träne von der Wange. Schwäche kann ich mir jetzt nicht leisten.
»Nein, mein Zimmer sieht genauso aus wie Ihres«, lüge ich Frau Kautge an, »aber man darf doch wohl noch von der Anmut und Schönheit eines Patientenzimmers überwältigt sein, oder? Sind Sie schon so abgestumpft, dass Sie keinen Blick mehr dafür haben? Ist die Schönheit eines Klinikzimmers für Sie nicht immer wieder aufs Neue ein Wunder?« Mir fällt ein Kunstdruck an der Wand ins Auge, irgendwas Abstraktes. »Zum Beispiel dieses Bild da an der Wand. Wunderwunderschön«, schwärme ich verträumt.
Frau Kautge sieht sich das Bild intensiv an; ich nutze den kurzen Moment, um blitzschnell hinter dem Vorhang zu verschwinden.
»Na ja …« Kurze Pause. »Hallo? Wo sind Sie denn? Sind Sie noch da?« Ich halte die Luft an, um mich nicht zu verraten. Sie seufzt. Dann schaltet sie den Fernseher ein.
Ich will mir nichts vormachen: Ich stehe zwar wieder hinter meinem Vorhang, aber das ist doch kein Zustand. Wie soll das weitergehen? Ich bin zwar in einer Privatklinik, aber ich habe kein eigenes Zimmer. Und an Therapiestunden habe ich ebenfalls noch nicht teilgenommen. Es ist noch nicht einmal absehbar, ob ich jemals eine haben werde. Wie auch? Niemand weiß, dass ich hier bin, dementsprechend wurde mir noch kein Therapeut zugewiesen. Das hätte ich mal früher bedenken sollen. Aber da war ich noch zu erfüllt von dem Gedanken, wie ich überhaupt in die Klinik gelange. Hätte ich mich mal lieber kurz mit der Frage beschäftigt, was dann kommt. Soll ich jetzt einen Therapeuten als Geisel nehmen und sagen: »Therapieren Sie mich,
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