Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
ENTSEELT

ENTSEELT

Titel: ENTSEELT Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Lumley
Vom Netzwerk:
sich. »Im Gegenteil, ich schätze, ich weiß genau, was sie hier wollen.«
    »Ja?«, fragte ihre Freundin neugierig.
    »Oh ja. Es liegt am Mond; da ist ein Ruf, den sie gehört haben; ein Opfer, das sie bringen werden. Sie düngen die Erde, erneuern die Fruchtbarkeit, besänftigen ihre Götter.«
    »Ihre Götter? Dann sind das also Heiden? Was sind das für Götter?«
    »Nenn es die Natur, wenn du willst«, erklärte die andere kurz angebunden. »Aber frag mich nicht mehr. Ich bin nur eine einfache Frau, und ich will das gar nicht wissen. Und du solltest das auch nicht. Die Großmutter meiner Großmutter kann sich an Zeiten erinnern, als die Zigeuner kamen. Und wohl auch deren Großmutter vor ihr. Manchmal vergehen fünfzehn Monate, manchmal achtzehn, aber nie mehr als einundzwanzig, bevor sie zurückkommen. Frühling, Sommer, Winter – nur die Szgany selbst kennen die Jahreszeit, den Monat oder den Tag. Aber wenn sie den Ruf hören, wenn der Mond richtig steht, wenn ein einsamer Wolf in den Bergen heult, dann kommen sie. Und wenn sie dann wieder gehen, lassen sie immer ihre Opfergabe zurück.«
    »Was für eine Opfergabe?« Die Jüngere wurde immer neugieriger.
    »Frag nicht!« Die Ältere schüttelte den Kopf. »Frag bloß nicht!« Aber das war typisch für sie. Ihre Freundin wusste genau, dass sie darauf brannte, ihr die Geschichte zu erzählen. Sie wartete ab, entschlossen, keine weiteren Fragen zu stellen. Aber nach kurzer Zeit, als sie bemerkte, dass sie vom kürzesten Weg nach Hause abgekommen waren, fühlte sie sich doch genötigt nachzufragen: »Ist das nicht ein großer Umweg, den wir hier machen?«
    »Sei ruhig!«, zischte die andere. »Da, sieh!«
    Sie waren auf einer Waldlichtung angekommen, am Fuß eines steilen Felsens aus grauem Vulkangestein. Er war unbewachsen und bildete oben eine Platte. Es gab einige Vorsprünge, an denen man emporklettern konnte. Der Felsen war etwa zwanzig Meter hoch. Hinter dem Felsen folgte noch ein wenig Wald und dann eine steile Felswand, die zu einem kiefernbestandenen Plateau anstieg, wie eine erste gigantische Stufe zu den nebelumwaberten, dräuenden Gipfeln des Zarandului-Massivs. Die Bäume um diesen Felsklotz herum waren alle gefällt worden, das Gebüsch und das Unterholz waren gerodet. Auf dem Gipfel war eine Pyramide aus schweren Steinen errichtet worden, wie ein kleiner Turm oder ein Mahnmal, das auf die Berge deutete.
    Und dort oben auf dem nackten Felsen direkt vor diesem Steinhaufen saß ein junger Mann, der mit seinem Messer eine Steinplatte in seinem Schoß bearbeitete: ein Szgany! Er war in seine Arbeit vertieft und bemerkte nichts bis auf den Stein in seinen Händen. Obwohl er kaum dreißig Meter von ihnen entfernt war und direkt in ihre Richtung blickte, schien er die Frauen nicht zu bemerken. Es war offensichtlich, dass er nur Augen für den Stein hatte, an dem er arbeitete. Und selbst auf diese Entfernung hin war da offenkundig etwas ... irgendetwas stimmte nicht mit ihm.
    »Was macht der da oben?«, wollte die jüngere der beiden Frauen flüsternd wissen. »Er sieht sehr gut aus – aber irgendwie komisch. Und ist das da nicht ein verbotener Ort? Mein Hzak hat mir erzählt, dass der Grundstein von diesem Mahnmal ein ganz besonderer Stein ist, und dass ...«
    »Pscht!«, bedeutete die andere ihr wieder, mit dem Finger auf den Lippen. »Störe ihn nicht. Sie mögen es gar nicht, wenn man hinter ihnen herspioniert, diese Szgany. Auch wenn uns der da sowieso nicht hören wird. Aber trotzdem ... es ist besser, man sieht sich vor!«
    »Du sagst, er wird uns sowieso nicht hören? Warum flüstern wir dann? Nein, ich weiß, warum wir flüstern: weil das hier ein Ort der Andacht ist, so wie eine Kapelle. Beinahe etwas Heiliges.«
    »Nein, nicht heilig! Verflucht!«, verbesserte ihre Freundin sie. »Und warum er uns nicht bemerkt? Sieh ihn dir doch an! Seine Hautfarbe ist nicht olivbraun wie sonst, sondern gräulich, krank und siech. Die Augen sind tief eingesunken und fiebrig. Er ist besessen von dem Stein, an dem er arbeitet. Er hat den Ruf gehört, das sieht man doch! Er ist besessen, hypnotisiert – er ist verdammt!«
    Während die letzten Worte ihren Mund verließen, erhob sich der Mann auf dem Felsen, nahm seinen Stein und fügte ihn an einer bestimmten Stelle sauber in das Mahnmal ein. Der Stein stand dort Seite an Seite mit Dutzenden anderer Steine, wie ein Ziegel in der obersten Lage einer Mauer, und jedem, der das Ritual des Behauens gesehen hatte,

Weitere Kostenlose Bücher